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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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selbst in einer zwanzig Jahre jüngeren und dennoch gleich alten Version zu sehen war.
    Sie umklammerte den Ring so fest, dass er sich in ihrer Hand zu erwärmen begann, und warf ihn dann rasch in die Pappschachtel zurück, bevor ihre durchgehende Fantasie noch einen draufsetzte und ihr weiszumachen versuchte, dass das Ding ihr in die Handfläche biss, mit ihr zu sprechen begann oder irgendeinen anderen, noch größeren Blödsinn. Sorgfältig verschloss sie den Karton wieder, legte ihn aber nicht in die Schublade zurück, sondern schob ihn in eine der zahllosen Taschen ihres Kleides - das einzig Praktische an diesem Monstrum, das mit jeder Minute unerträglicher zu kratzen schien, und in dem sie sich mittlerweile fühlte, als liefe sie in einer tragbaren Sauna herum.
    Das erinnerte sie daran, warum sie eigentlich hergekommen war. Sie schob die Schublade zu, knibbelte aus einem kindischen Gefühl purer anarchischer Zerstörungslust heraus auch noch den Rest des Siegels ab, mit dem irgendein übereifriger Polizist den Schreibtisch verschlossen hatte, und fragte sich ganz instinktiv, was er wohl so Wichtiges enthalten haben mochte, dass jemand ihn immerhin für wert befunden zu haben schien, ihn amtlich zu versiegeln. Wie es aussah, hatte Esteban wohl doch das eineoder andere kleine Geheimnis gehabt, das über seine bekannten Schrullen hinausging.
    Aber auch das würde sie jetzt niemals mehr erfahren.
    Ein wenig erstaunt registrierte sie, dass ihre Augen zu brennen begannen und sich mit Tränen füllten. Esteban war tot, und obwohl sie das seit Wochen wusste, kam der Schmerz plötzlich und so intensiv, dass sie sich mit aller Gewalt beherrschen musste, um nicht laut loszuschluchzen.
    Ganz plötzlich begriff sie, wie sehr sie diesen alten Mann geliebt hatte. Sie hatte es ihm nie gesagt, nicht so deutlich, wie sie es hätte tun sollen, und vielleicht war das Begreifen, dass sie die Chance dazu nun auch nie mehr bekommen würde, das Schlimmste überhaupt. Der Gedanke war egoistisch und ungerecht, aber der Schmerz war trotzdem so schlimm, dass sie ihn kaum ertrug.
    Sie wischte die Tränen weg, ging mit schnellen Schritten zur Tür und löschte das Licht hinter sich, bevor sie den Raum verließ – vielleicht für immer – und die Treppe ansteuerte. Auf halbem Weg stolperte sie über ihren Mantel, den sie achtlos hatte fallen lassen (manche schlechten Angewohnheiten nahm man anscheinend deutlich schneller an, als man sie wieder ablegte, dachte sie spöttisch), kickte ihn so schwungvoll in die Ecke, als wollte sie sich auf diese Weise selbst davon überzeugen, dass sie dieses scheußliche Ding ganz bestimmt niemals wieder anziehen würde, und eilte dann leichtfüßig die Treppe hinauf. Sie kannte sich im Haus gut genug aus, um kein Licht einschalten zu müssen, und dasselbe galt auch für ihr Zimmer. Dazu kam, dass ihre Augen anscheinend wirklich besser geworden waren. Nachdem die letzten Nachbilder des nackten Glühdrahtes auf ihren Netzhäuten verblasst waren, flossen die Schatten vor ihr zu vertrauten Umrissen und Formen zusammen. Wahrscheinlich hätte sie sich auch mit geschlossenen Augen zurechtgefunden.
    Noch während sie das kleine Zimmer durchquerte, in dem sie so viele Jahre ihres Lebens zugebracht hatte, begann sie sich ausdem unbequemen Kleid zu schälen, dann öffnete sie den Kleiderschrank und langte nach dem erstbesten Stück, das ihr in die Hände fiel. Sie hatte nur einige wenige Kleider hier zurückgelassen, und es waren nicht unbedingt ihre Lieblingsstücke, aber alles war besser als die grauen Lumpen, die sie noch immer am Leib trug. Alica hatte behauptet, dass es sich um Unterwäsche handelte, und Pia hatte ihr nicht widersprochen … allerdings weniger, weil sie ihr zugestimmt hätte, sondern eher, weil ihr keine passenden Bezeichnungen für diese … Etwasse eingefallen waren, die nicht nur so aussahen, als wären sie aus gebrauchtem Schmirgelpapier zusammengeklebt worden, sondern die sich auch ganz genauso anfühlten.
    Etwas bewegte sich in ihren Augenwinkeln.
    Pia fuhr auf dem Absatz herum, riss die Hände mit halb verkrümmten Fingern vor die Brust und ging in die Grundstellung einer Kampftechnik, die sie nie gelernt hatte, von der sie aber trotzdem wusste, wie verheerend sie war.
    Aber es gab niemanden, den sie zu Brei schlagen konnte. Sie war allein. Niemand war bei ihr im Zimmer. Selbst die Schatten hatten aufgehört zu flüstern. Die Bewegung, die sie zu sehen geglaubt hatte, war die ihres
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