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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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eigenen Spiegelbildes gewesen.
    Pia stand noch eine geschlagene Sekunde lang in unveränderter Haltung da, dann entspannte sie sich nicht nur mit einem hörbaren Seufzen, sondern musste auch über ihre eigene Schreckhaftigkeit lachen.
    Und was sollte überhaupt dieser Quatsch mit sicherem Stand und versteiften Fingern?
    Dai-Ki, flüsterte eine lautlose Stimme hinter ihrer Stirn. Eine uralte Kampftechnik, die nur wenigen Auserwählten vorbehalten war, und der nicht einmal ein Ork widerstehen konnte, wenn sie von einem wahren Meister angewandt wurde.
    Dai-Ki? Pia sah auf ihre Finger hinab, die zu so etwas wie tödlichen Raubvogelklauen verkrümmt waren, ließ die Hände dann mit einem Ruck sinken und schüttelte noch einmal und nochheftiger den Kopf. Dai-Blödsinn! Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, aber anscheinend hatte sie ein paar Jackie-Chan-Filme zu viel gesehen. Sie hatte schon früh gelernt, sich zur Wehr zu setzen (und auch, dass man den Begriff Notwehr manchmal durchaus vorbeugend auslegen konnte), und so mancher, der in ihr nichts als ein zart gebautes, verletzliches Mädchen gesehen hatte, hatte diesen Irrtum nicht nur bitter bereut, sondern auch sein blaues Wunder erlebt; und das manchmal wortwörtlich. Aber sie hielt nichts von diesem ganzen Kung-Fu- und Karate-Unsinn. Es mochte ja ganz beeindruckend aussehen, auf einem Bein zu stehen, wie ein arthritischer Pelikan mit den Armen zu wedeln und dabei komische Geräusche zu machen, aber ein guter altmodischer Schwinger erzielte meistens dieselbe Wirkung und war nicht annähernd so schwierig zu lernen. Dai-Ki! Was für ein Quatsch!
    Sie streckte dem Schemen im Spiegel die Zunge heraus, ging wieder zum Kleiderschrank und machte dann noch einmal kehrt, um ganz an den Spiegel heranzutreten, der sie gerade so erschreckt hatte. Er war nicht nur größer, sondern auch deutlich älter als sie und hatte schon in diesem Zimmer gestanden, als es sie noch gar nicht gegeben hatte. Er hatte einen Riss, der quer über sein unteres Drittel verlief und den sie als Kind gerne und oft benutzt hatte, um sich selbst Grimassen zu schneiden und sich darüber zu amüsieren, zu welch bizarren Fratzen der verästelte Riss ihr Spiegelbild zerschnitt; und um ein paarmal auch zu erschrecken. An zahllosen Stellen war er längst blind geworden, woran sie sich im Laufe der Jahre so sehr gewöhnt hatte, dass sie es kaum noch zur Kenntnis nahm und die fehlenden Bildinformationen einfach aus dem Gedächtnis rekonstruierte.
    Einer dieser blinden Flecken war trotzdem neu. Er wäre ihr aufgefallen, wäre er schon früher da gewesen, denn er befand sich genau in Höhe ihres Gesichts und löschte es aus. Wo ihr Antlitz sein sollte, war nur ein verschwommener grauer Fleck, als weigerte sich der Spiegel, ihr ihr eigenes Gesicht zu zeigen.
    Pia machte einen halben Schritt zur Seite. Der blinde Fleck wanderte mit. Sie bewegte sich um dasselbe Stück in die andere Richtung, und der verschwommene Fleck vollzog auch diese Bewegung nach. Für einen dritten Versuch fehlte ihr der Mut.
    Selbstverständlich gab es eine ganz logische und vermutlich sogar simple Erklärung für dieses Phänomen. Das schlechte Licht hier drinnen. Ihre angespannten Nerven. Der Fleck mochte schon ewig und drei Tage dort sein, und sie hatte ihn nur nicht bemerkt, weil ihr jedes Staubkorn in diesem Zimmer so vertraut war, dass sie schon gar nicht mehr hinsah.
    Oder, oder, oder …
    Es gab ein Dutzend ganz simpler Erklärungen für den Umstand, dass der Spiegel sich weigerte, ihr Gesicht zu zeigen.
    Bestimmt.
    Ganz sicher.
    Sie wagte es trotzdem nicht, noch einmal in den Spiegel zu sehen, sondern schlüpfte rasch auch aus dem Rest ihrer Kleider und zog die erstbeste Unterwäsche an, die ihr in die Finger fiel. Dann beging sie – ohne eigentlich selbst genau zu wissen, warum sie das tat – den Fehler, noch einmal an den zerschlissenen Lumpen zu riechen, die sie bisher getragen hatte, und verzog angeekelt das Gesicht. Das Zeug stank genauso, wie sie es erwartet hatte. Aber es wurde auch nicht besser, nachdem sie es so weit von sich fortgeworfen hatte, wie es in dem kleinen Zimmer überhaupt nur möglich war.
    Pia beging noch einen Fehler, indem sie den Arm hob und an ihrer Achselhöhle schnupperte. Sie hatte sich nicht geirrt. Es waren nicht so sehr die Kleider, die nach einer Mischung aus Schweinestall, Brauerei und Latrine stanken, es war eher sie selbst.
    Sie verzog noch einmal das Gesicht und fragte sich, wie sie es
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