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Elfenblick

Elfenblick

Titel: Elfenblick
Autoren: Katrin Lankers
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höchstens gut dafür waren, sich die Knie daran zu stoßen. Frau Ursulin passte perfekt in dieses Ambiente, auch ihre graue Dauerwelle wirkte, als sei sie zuletzt in den Siebzigern aufgefrischt worden.
    Vor Jodel-Ursel lag ein schiefer Stapel Blätter auf dem Lehrertisch, von dem sie hektisch einzelne Zettel herunterzog und mit einem Rotstift bearbeitete. Es hatte längst geschellt, doch Jodel-Ursel ließ sich nicht beirren. Der Lärmpegel in der Klasse war enorm, Papierkügelchen, Flieger und gelegentlich Bleistifte flogen durch die Luft.
    »Schön, schön«, unterbrach Frau Ursulin schließlich das Chaos und rückte ihre dicke Kunststoffbrille mit dem Daumen auf der Nase nach oben.
    »Ich habe hier eure Kompositionsaufgabe. Ich muss sagen, ich bin nicht begeistert. Aber gut, was soll man erwarten?« Sie schob sich durch die Reihen, verteilte die Notenblätter und gab mal mehr, mal weniger zufriedene Kommentare von sich. Vor Mageli blieb sie stehen und schüttelte betrübt den Kopf. »Was soll ich davon halten?«, seufzte sie. »Du könntest zumindest versuchen, dich an gewisse Regeln der Notation zu halten.« Mit einem weiteren Seufzer ließ sie das Blatt vor Mageli auf den Tisch segeln. Rot, wohin man guckte.
    Mageli spürte, wie sich auch ihr Gesicht rot färbte. Sicher sah sie schon wieder aus wie eine Tomate. Verfluchte helle Haut! Sie schob ein paar Strähnen hinter die Ohren und strich sie schnell wieder ins Gesicht. Unter dem Haarschleier schaute sie auf das Blatt. Sie musste zugeben, dass die Kreise und Striche, die sie notiert hatte, für jemand anderen kaum nachvollziehbar waren.
    »Aber es klingt großartig.« Sie flüsterte fast. Warum sollte man Musik, die sich toll anhörte, mit Noten an Linien fesseln? Sie konnte das nicht. Hätte sie ihre Flöte dabeigehabt, hätte sie der Ursulin schon gezeigt, wie schön die Melodie war, die ihr zu Hause durch den Kopf gegangen war.
    »Mach dir nichts draus«, raunte Rosann ihr zu. »Die Ursulin hat etwa so viel Ahnung von Musik wie ein Esel vom Eierlegen.«
    Mageli musste grinsen. Durch ihren Haarschleier warf sie Rosann einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. »Du mit deinen Sprüchen.« Aber sie fühlte sich sofort ein bisschen besser.
    »Dann wollen wir uns mal einsingen.« Jodel-Ursel war mit dem Verteilen fertig und klatschte voller Elan in die Hände. »Wenn ihr euch bitte alle erheben wollt.«
    Die Probe zog an Mageli vorüber, ohne dass sie dem Ganzen viel Aufmerksamkeit schenkte. Sie starrte auf die orange Wand gegenüber. Wenn sie die Augen zu schmalen Schlitzen schloss, konnte sie Muster auf der Tapete erkennen, die überhaupt nicht da waren. Sie kniff die Lider noch fester zusammen und öffnete sie wieder. Jetzt gaukelten auch noch kleine Sterne über die Wand.
    Durch Magelis Kopf tanzte die Melodie, die sich nicht auf Papier hatte festhalten lassen. Es waren Klänge, die Mageli zugleich vertraut und fremd vorkamen. Vertraut, weil sie solche Melodien schon immer gekannt und gespielt hatte. Aber auch fremd, weil sie nicht den Liedern oder Musikstücken entsprachen, die ihr hier im Musiksaal oder anderswo je begegnet waren. Sie klopfte den Rhythmus mit ihren Fingerknöcheln von unten gegen die Tischplatte. Bah, da klebte ein Kaugummi.
    Mageli ließ die Hand auf ihren Oberschenkel sinken und streifte dabei mit den Fingerspitzen ein dünnes Blatt Papier. Sie zog es hervor: eine Zeitungsseite von vorgestern. Sie war wohl nicht die Einzige, die sich im Musikunterricht langweilte. In der linken oberen Ecke der Seite strahlten sie ein blonder Hollywoodschönling und seine schönheitsoperierte Gattin an. »Schauspielerpaar adoptiert zehntes Kind«, stand darunter. Mageli ließ ihren Blick ziellos über die Seite wandern: »Erdbeben zerstört Schule in China.« »Fünf Touristen in Ägypten entführt.« An einer kleineren Überschrift blieben ihre Augen hängen: »Babys nach Geburt vertauscht.« Die Meldung war nicht lang.

    Zwei Paaren in Süddeutschland ist passiert, wovor sich alle Eltern fürchten: Direkt nach der Geburt wurden ihre Kinder im Krankenhaus vertauscht. Erst nach mehreren Monaten deckten jetzt Gentests den Fehler auf. Zweifel waren dem Vater des einen Mädchens gekommen, als dieses auffallend blonde Haare bekam; die Eltern sind beide dunkelhaarig. Er unterzog sich heimlich einem Gentest, dieser bestätigte seinen Verdacht. Fast hätte dies die Ehe des jungen Paares zerstört, denn zunächst unterstellte der Mann seiner Ehefrau, ihm untreu
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