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Elfenblick

Elfenblick

Titel: Elfenblick
Autoren: Katrin Lankers
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Mageli. Bei den meisten anderen Menschen fiel es ihr viel schwerer, den Mund aufzumachen, aber Rosann hatte ihr, gleich als sie sich kennengelernt hatten, in ihrer unnachahmlichen Art erklärt, wie die Sache aussah: »Du bist anders, ich bin anders, ich schätze, wir sollten einen Club gründen.« Seither waren sie Freundinnen. Und eine bessere Freundin konnte man sich wirklich nicht wünschen, fand Mageli.
    Die Schulglocke klingelte zum dritten Mal.
    »Was haben wir?« Mageli konnte sich den Stundenplan einfach nicht merken. Selbst jetzt am Ende des Schuljahres musste sie noch vor jeder Stunde nachfragen.
    »Englisch. Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden. Kurt Tucholsky. Der war übrigens Deutscher.«
    »Jetzt geht das schon wieder los.«
    Mageli warf sich ihren Rucksack über die rechte Schulter und Rosann stieß sich von dem Fahrradständer ab. Sie war einen Kopf kleiner als Mageli, aber das war nicht ungewöhnlich. Mageli überragte jedes Mädchen in ihrer Klasse um wenigstens zehn Zentimeter. Gemeinsam gingen sie Richtung Schulgebäude. Mit bunten Wandgemälden hatten zahlreiche Abschlussklassen vergeblich versucht, den grauen Kasten etwas ansehnlicher zu gestalten. Die Freundinnen schoben sich durch das Gedränge im Flur zu ihrem Klassenraum und Mageli atmete tief durch. Dann drückte sie die Tür auf und trat ein.
    »Hallo, da sind ja die Damen Hochnäsig und Besserwisser!« Marc lehnte lässig an seinem Tisch. Um ihn herum saß seine Clique auf Stühlen und Tischkanten. Jetzt brachen alle in hämisches Gelächter aus. Marc klopfte sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und lachte, als hätte er etwas echt Witziges gesagt. Es war ein Ritual, die übliche Begrüßung für Mageli und Rosann, seit Marc vor zwei Jahren in ihre Klasse gekommen war. Trotzdem versuchte Mageli mal wieder vergeblich, den Kloß runterzuschlucken, der plötzlich ihren Hals verstopfte. Rosann hingegen war schlagfertig wie immer.
    »Hi, Marc, hat deine Mom dir die Haare heute morgen mit brauner Schuhcreme gestriegelt?«, fragte sie spitz.
    Marc schnaufte. Er warf den Kopf herum, wobei sich nicht eine einzige seiner festgegelten braunen Locken auch nur einen Millimeter bewegte.
    »Du hast ja keine Ahnung, Vogelnest, wie schön es sein kann, überhaupt eine Frisur zu haben.«
    Rosann pustete nur genervt Luft durch die Nase. Dann zog sie Mageli zu ihrem Tisch in der vordersten Reihe. Mageli ließ sich auf den Stuhl fallen und schob nervös mit der rechten Hand ihre Haare hinters Ohr, strich sie aber sogleich wieder davor.
    Anfangs, als Marc in die Klasse gekommen war, hatte er sie Rapunzel genannt. »Rapunzel, Rapunzel, lass dein güldenes Haar herab.« Er fand das wahnsinnig witzig, aber Mageli war es furchtbar peinlich. Nach ein paar Wochen nahm Ben Marc in der Pause zu einem Männergespräch zur Seite. »Die interessiert sich nicht für die Jungs in unserer Klasse, musst du wissen. Die hält sich für was Besseres.«
    Mageli konnte sich noch genau daran erinnern. Sie stand nicht besonders weit entfernt und konnte hören, was Ben sagte. Ob dem das egal war oder ob er Mageli nicht bemerkt hatte, wusste sie nicht. Marc hatte sie auf jeden Fall entdeckt, und sie konnte sich noch gut an den Blick erinnern, den er ihr zugeworfen hatte: wütend und irgendwie enttäuscht.
    »Good morning, good morning! Let’s have some fun with good old Shakespeare!« Frau Bennings betrat den Klassenraum und verbreitete sofort ihre anstrengend gute Laune. Mageli kramte in ihrem Rucksack nach dem Textheftchen, das sie in den letzten Englischstunden bereits mit Blättermustern vollgekritzelt hatte.
    »Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode«, zitierte Rosann mit gesenkter Stimme.
    »Shakespeare?«
    »Natürlich.«
    »Nun, dann wollen wir mal«, trompetete Frau Bennings.
    Mageli senkte den Kopf, bis ihre Haare ihr Gesicht verdeckten, und schaltete ihr Hirn auf Energiesparmodus.
    Das Schulzentrum war in den Siebzigerjahren auf dem platten Land hochgezogen worden. Mageli fand, dass besonders der Musiksaal noch immer den besonderen Charme dieses Jahrzehnts versprühte. Die Wände waren in einem Orangeton gestrichen, der Zahnschmerzen verursachte, an der Stirnseite hing eine dunkelgrüne Tafel mit dicken Notenlinien, und die Pulte aus dunklem Holz hatten Fächer unter der Tischplatte, an denen man sich beim Kippeln mit den Füßen abstützen konnte, die aber ansonsten
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