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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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sein? Er weiß es nicht, weil er sich nicht um sie gekümmert hat. Wahrscheinlich ist sie irgendwo mit Rick und Steve unterwegs. Bestimmt ist alles in Ordnung. Er lässt es genau dreißig Mal klingeln, bevor er seine Niederlage eingesteht.
    Nach einem überraschenderweise unbeantworteten Anruf aufzulegen, fühlt sich frostig an, besonders bei einem Anruf über so weite Distanz, wie irgendetwas zwischen Vor-den-Kopf-gestoßen-Werden und Scheitern. »Jetzt mach mal halblang«, murmelt Xavier zu sich selbst. Dann tippt er mit leicht zitternden Fingern Matildas Nummer in die Tastatur. Er legt wieder auf, versucht es noch einmal, legt wieder auf. Das geht ein paar Momente so weiter. Schließlich lässt er es klingeln. Diesmal klingt der Ton fast skeptisch, als würde der Anruf wider besseres Wissen aller Beteiligten durchgestellt. Jetzt hofft er fast, keine Antwort zu bekommen, aber das Telefon wird abgenommen.
    »Hallo?«
    »Matilda?«
    »Ja.«
    Sie hat jetzt einen Verlobten und lebt in Sydney, sie wird eine andere Frisur haben, schlanker oder kurviger sein und einen ganzen Kleiderschrank voll Sachen besitzen, die er noch nie gesehen hat; Bec, Russell und sie werden neue Redensarten und Gags haben, neue Freunde, über die sie sprechen, neue Lieblingsfilme und -bands. Es wird neue Clubs und Kneipen geben. Das Zodiac wurde, wie er durch eine E-Mail-Petition erfuhr, von einer Firma aufgekauft, die den Balkon herausgerissen und eine zweite Leinwand installiert hat. Bestenfalls hat Matilda ab und zu einen kurzen Blick auf ein Foto der Viererbande geworfen oder eine alte Geburtstagskarte gefunden und kurz zurückgedacht, bevor sie sie eilig wieder wegpackte. Diese Zeit liegt in der Vergangenheit und sollte dort bleiben, es gibt kein Zurück, das hier ist hirnrissig. All das geht Xavier durch den Kopf in den drei Sekunden, bevor er spricht.
    »Mat? Ich … tut mir leid, falls ich störe. Ich bin’s, Chris.«
    »Chris!« Sie klingt überrascht – wie sollte es anders sein – und ein klein wenig bange, aber vielleicht, nur vielleicht auch erfreut.
    »Tut mir leid. Ich hab mich bloß so lange nicht mehr gemeldet. Ich wollte … ich weiß auch nicht.«
    »Mensch, Chris!«
    »Stör ich? Ich weiß, es ist schon spät.«
    »Nein, nein, gar nicht. Wir gucken bloß Fernsehen.«
    »Du und … dein Verlobter?«
    »Ich und Bec. Ich bin bei Bec und Russell.«
    Xavier stockt der Atem.
    »Oh.«
    »Hey«, sagt sie, genau wie früher, und er sieht sie vor sich, wie sie auf dem Trampolin in die Höhe schnellt und dann hinunterspringt, geradewegs in seine Arme, so dass er rückwärts stolpert, »hey, bist du da drüben im Radio?«
    »Was? Äh. Ja.«
    »Chris, das ist ja der Hammer! Es ging nämlich das Gerücht, aber ich konnte nichts finden. Irgendwer meinte, er hätte dich übers Internet gehört.«
    »Ich mach das unter einem anderen Namen. Äh. Xavier.«
    »Xavier.«
    »Ja, ich weiß. Es ist irgendwie albern.«
    »Xavier! Scheiße Mann! Du bist DJ ! Der Wahnsinn!«
    »Cool, ne?«
    Dreißig Sekunden lang haben sie geredet, als würden sie sich immer noch regelmäßig treffen oder wenigstens in derselben Stadt leben. Als ihnen plötzlich klar wird, dass das nicht so ist, geraten sie ins Stocken.
    »Wie geht’s dir?«, fragt Xavier.
    »Gut. Ja, läuft alles prima.«
    »Und wie geht’s … wie geht’s Bec? Und Russell?«
    »Auch gut.«
    Wieder ist es schwierig, aber wenigstens sind sie bis hierhin gekommen. Er holt tief Luft.
    »Ob sie wohl mit mir sprechen würde? Was meinst du?«
    Matilda überlegt eine Weile. Xavier will schon zurückrudern, da sagt sie: »Bleib mal dran.«
    Er hört Schritte und ein geflüstertes Gespräch, das er nur zu gern verstünde. Das Telefon wird mehrmals hörbar hin und her gereicht.
    »Hallo, Chris.«
    »Bec.«
    »Wie geht es dir?«
    »Gut. Schön, dich zu hören.«
    »Ja, auch schön, dich zu hören.«
    Bec Stimme hat sich verändert in den fünf Jahren, seit er sie das letzte Mal gehört hat, auf jene unbeschreibliche Weise, wie Stimmen von der Zeit verändert werden – wie die im Inneren eines Menschen aufgestapelte Erfahrung auf den Stimmbändern lastet. Die kleinen, vorsichtigen Hiebe sind genug, um die ersten Kerben in das Eis zu schlagen, das alles überzog. Oder fast genug.
    Xavier schluckt einen Mundvoll Leere.
    »Wie geht es Michael?«
    Bec holt tief Luft, ihre Stimme zittert.
    »Ganz gut.«
    Von hier aus führt kein Weg mehr weiter, und es ist ein kühler und steifer Moment, aber durch den
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