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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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Ben – den man in klareren Nächten von Xaviers Studio aus gerade so sehen kann – zwei Uhr.
    »Und hier die Schlagzeilen«, verliest meilenweit entfernt eine Frau, deren fast gänzlich tonlose Stimme in diesem Moment auf allen Radiosendern des Networks im ganzen Land zu hören ist. »Rekordschnee. Wenn das Land in einigen Stunden erwacht, wird es mit den stärksten Schneefällen seit zehn Jahren konfrontiert werden.«
    Komische Ausdrucksweise, denkt sich Xavier – Wenn das Land erwacht  –, als wäre Großbritannien ein großes, schlafendes Internat, das am Morgen von der Glocke geweckt wird. Wie der Erfolg von Xaviers Vierstundenschicht beweist, gibt es allein in London eine riesige Phantomgemeinschaft von Leuten, die aus allen möglichen Gründen nachts wach sind: Schichtarbeit, ungewöhnliche Hobbys, Schuldgefühle, Ängste oder Krankheiten – oder auch einfach Begeisterung für seine Sendung. Xavier blickt noch einmal auf die schneebedeckte Fensterscheibe und stellt sich das stille, verschneite London vor, das sich da draußen meilenweit erstreckt. Er versucht sich Clive Donald vorzustellen, den Mathelehrer, wie er nach dem Telefonat langsam den Hörer auflegt, den Wasserkocher anstellt, gedankenverloren zwei Tassen aus einem Schrank nimmt und eine wieder zurückstellt. Er denkt an die vielen regelmäßigen Anrufer: die Fernfahrer, die am Radio herumfummeln, wenn der Empfang auf der M1 stadtauswärts schlechter wird, und die älteren Damen, die sonst niemanden zum Reden haben. Dann denkt er vage an die halbe Million Londoner auf Nachtschicht, direkt jenseits des Parkplatzes mit dem herumschleichenden Fuchs, den stillen Ecken und, heute Nacht, dem Schnee, der sich immer dicker in Wellen darauf legt.
    Einer von Clive Donalds Schülern, Julius Brown, siebzehn Jahre alt und hundertdreißig Kilogramm schwer, sitzt in seinem Zimmer und weint leise. Obwohl er regelmäßig ins Fitnessstudio geht, bekommt er sein Gewicht einfach nicht in den Griff. Mit vierzehn begann er, Medikamente gegen Epilepsie einzunehmen, deren Nebenwirkung unter anderem sprunghafte Gewichtszunahme war, und obwohl kein Arzt eine Erklärung dafür hat, geht er jedes Mal, wenn er etwas isst, fast sichtbar weiter in die Breite. An jedem Schultag hagelt es Beleidigungen: Seine Mitschüler machen Furzgeräusche, wenn er sich setzt, und auf dem Schulhof stecken die Mädchen die Köpfe zusammen und lachen auf ihre unergründliche Art, wenn er vorbeigeht. Er hat drei Hauptfächer, unter anderem Informationstechnologie, und möchte Softwareentwickler werden, aber er rechnet damit, bei einer Hotline zu enden und dünneren Menschen zu helfen, deren Computer nicht hochfahren. Er spürt den Schneefall, ohne nach draußen zu sehen: Es war bitterkalt, als er von dem Restaurant, in dem er ein paar Mal die Woche abends arbeitet, mit dem Bus nach Hause fuhr. Er würde alles darum geben, dass die Schule morgen ausfällt.
    Andere hoffen auf das Gegenteil, zum Beispiel Jacqueline Carstairs, die Mutter eines Jungen im Jahrgang über Julius. Sie ist freie Journalistin und hat eine schnelle, aggressive Art zu tippen, wie jemand, der Rockpiano spielt. Ihr Mann hat versprochen, ihren Sohn Frankie morgen zur Schule zu bringen, damit sie lange wach bleiben und einen Artikel über chilenischen Wein zu Ende schreiben kann, und wenn die Schule nicht ausfällt, kann sie auch morgen noch ungestört arbeiten. Die Jahre als Mutter haben ihre Ohren geschärft, und sie hört, wie die Schneeflocken watteweich und beinahe geräuschlos in die Recyclingkiste draußen vor der Tür fallen. Sie tippt in eine Suchmaschine den Namen eines chilenischen Schauspielers ein, der jetzt in Großbritannien lebt und bei einer Werbekampagne für den Wein mitwirkt, über den sie schreibt.
    Die Psychotherapeutin des Schauspielers, Dr. Maggie Reiss, sitzt in ihrem Haus in Notting Hill auf der Toilette. Sie stammt aus New York und praktiziert seit 1990 in London, wo sie mittlerweile eine lange Liste bekannter Klienten aus der Welt der Unterhaltungs-, Geschäfts- und Modewelt vorweisen kann. Vor zwei Jahren wurde bei ihr ein Reizdarm diagnostiziert, den sie auf das unzumutbare Auftreten vieler ihrer Klienten zurückführt: ihre Ansprüche, ihre Selbstgefälligkeit und manchmal sogar Aggressivität. Sie sitzt unter der Reproduktion eines Klimt-Gemäldes aus dem MOMA und blickt durch das Badezimmerfenster auf die immer weißer werdenden Dächer und Schornsteine. Sie fragt sich, ob Schornsteine
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