Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
ziemlich beängstigend.
    Zuerst überlegte er sich seine neuen Initialen, XI . Sie lagen aus mehreren Gründen nahe. Erstens war Xi ein kaum bekanntes, aber gültiges Wort, mit dem er in der Woche seines Namenswechsels ein Scrabble-Turnier gewann. Und natürlich bezeichneten die Buchstaben als römische Ziffern Elf, die Zahl, die ihn aus unerfindlichen Gründen schon immer begleitet hatte. Es überraschte ihn daher nicht, dass er schließlich eine Wohnung in der Bayham Road Nr. 11 fand. Xavier war einer der wenigen geeigneten Vornamen, die ihm einfielen, und auch Ireland, sein neuer Nachname, hatte keine besondere Bedeutung. Als Ganzes gesehen funktionierte Xavier Ireland aber ganz gut – exotisch, einzigartig, aber irgendwie glaubhaft.
    Einen neuen Namen anzunehmen, war ihm bedeutsam erschienen, weil der alte, Chris Cotswold, eine entscheidende Rolle beim Aufbau der wichtigsten Beziehungen in seinem bisherigen Leben gespielt hatte. Seine drei besten Freunde, Bec, Matilda und Russell, hatte er kennengelernt, als ihre Nachnamen in der vierten Klasse der Reihe nach in der alphabetischen Liste im Klassenbuch standen und die vier in eine Gruppe eingeteilt wurden, um eine Fabel von Äsop nachzuspielen. Chris, wie er damals hieß, nahm die Sache in die Hand und legte fest, dass Bec, schon mit neun gut angezogen mit Strumpfhose und roten Schuhen, den Fuchs spielen sollte; Matilda mit ihren Zöpfen war das Schaf und der pausbäckige Russell das Boot, das sie über den Fluss brachte. Als sie zu proben begannen, bekam Matilda Nasenbluten. Nie wird Xavier das unheilvolle Tropf-tropf auf den Bodenkacheln vergessen, und auch nicht ihr kleines, gelassenes Sommersprossengesicht mit den schmutzig dunklen Blutspuren. Sie saß da mit der Gleichgültigkeit einer Neunjährigen, und die Tropfen rannen ihr über die Oberlippe wie Regen über eine Scheibe.
    Chris kramte in seiner Tasche nach einem schmuddeligen Papiertaschentuch, das er ihr geben könnte.
    »Ich geh zu Mrs. Hobson und sag’s ihr.«
    »Geh nicht. Es hat schon aufgehört.«
    »Nein, ich meine nicht zum Petzen. Damit sie dir hilft, meine ich.«
    »Bitte sag’s ihr nicht.«
    Sie nahm seinen Ellbogen. Er blieb, wo er war. Die beiden hatten gerade den ersten Schritt auf dem Weg zu ihrem ersten Kuss gemacht, fünfzehn Jahre später auf einer Grillparty.
    Kurz entschlossen und ohne viele Worte, wie Kinder manchmal sind, einigten sich die vier, das Nasenbluten zu vertuschen, indem sie sich für ihre Vorführung besonders ins Zeug legten. An jenem Nachmittag gingen Chris, Matilda, Russell und Bec zu viert nebeneinander zur Bushaltestelle, und niemand traute sich, mit ihnen zu reden. Chris war so glücklich, dass er kaum einschlafen konnte; er war in einer Bande.
    Die Viererbande, wie sie von gemeinsamen Freunden später genannt werden sollte, wurde zu einer festen Einrichtung. Bec war elegant und ordentlich, Matilda lotterig und voller Sommersprossen, immer mit Laufmaschen in der Strumpfhose und zu großen oder zu kleinen T-Shirts, und der langsame, schwerfällige Russell brauchte dauernd Chris’ Hilfe bei den Hausaufgaben. Russell und Bec wurden mit vierzehn ein Paar: Von da an lag auf Russells bulligem Gesicht der Ausdruck eines Mannes, der eine Frau gefunden hat, die seine vernünftigen Erwartungen weit übertrifft. Chris und Matilda brauchten etwas länger. Sie behaupteten, ihre Freundschaft sei zu wertvoll, um sie für eine Affäre aufs Spiel zu setzen. Trotzdem schien es nur eine Frage der Zeit, denn es war das einzig vorstellbare Ergebnis. Die vier machten zusammen Urlaub, leisteten zusammen freiwillige Arbeit und wurden wie selbstverständlich zu Partys und sogar zu Hochzeiten als Gruppe eingeladen, als wären sie eine Person. Selten verging mehr als ein Tag, an dem sie einander nicht sahen, und das zwanzig Jahre lang.
    Nachdem er kurz in Nostalgie geschwelgt hat, sinkt Xavier in den Schlaf, aber wie so oft führen ihn seine Träume zurück nach Melbourne. Er ist mit der Viererbande und Michael, dem kleinen Sohn von Bec und Russell, im Botanischen Garten. Michael macht ein paar unsichere Schritte, jagt einen Vogel mit einem langen Schnabel, und plötzlich kommen seine Beinchen einander in die Quere und er kippt um. Alle lachen, aber Michael schreit vor Schmerz. Während der ganzen Zeit ist Xavier jedoch nicht vollständig in den Traum eingetaucht: Selbst während er vor seinen Augen abläuft, weiß irgendein Teil seines Gehirns, dass es nicht in Wirklichkeit passiert,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher