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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage
Autoren: Ronald Reng
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15. Februar 1976
Glatteis im Strafraum
    Gegen zehn Uhr am Abend sagt Heinz Höher zu seiner Frau, die schon daran gewöhnt ist, dass er seine Handlungen selten erklärt, er gehe noch mal kurz raus. Es hat null Grad in Bochum. Schnee- und Eisreste, von den Räumdiensten tagsüber mit 180 Tonnen Salz und Sand bekämpft, gefrieren wieder. In der vergangenen Nacht verunglückten 65 Autofahrer. In der Dorstener Straße schlitterte ein 18-Jähriger mit seinem Wagen geradeaus in einen Laternenpfahl, in Stiepel schleuderte ein 20-jähriger Fahrer, wie vom Katapult geschossen, gegen eine Garagenwand.
    Heinz Höher schließt die Fahrertür seines silbernen 190er Mercedes auf. In den umliegenden Wohnungen leuchten hier und dort noch die Fernseher, obwohl die Übertragung der Schlussfeier der Olympischen Winterspiele von Innsbruck vorüber ist. Ein Österreicher hat am Nachmittag beim Skispringen von der Großschanze eine der letzten Goldmedaillen gewonnen, Heinz Höher hat sich den Namen nicht gemerkt, obwohl er das Springen gesehen hat.
    In nicht einmal 15 Minuten erreicht er trotz der widrigen Straßenverhältnisse das Stadion an der Castroper Straße. Auto fährt er nach seinen eigenen Regeln. Niemals als Erster an einer roten Ampel zu stehen ist sein großer Ehrgeiz. Es geht ihm nicht darum zu rasen, sondern sich mit selbst gestellten Aufgaben die Zeit im Auto zu vertreiben. Einmal hat er auf der Autobahn versucht, permanent 150 km/h zu fahren, nicht im Schnitt, sondern durchweg, von Fürth bis Bochum, 440 Kilometer lang.
    Seine Helfer sind pünktlich am dunklen Stadion, August Liese und Erwin Höffken, die als Obmänner vom neuen Stürmer bis zur Kiste Bier alles für die Profielf des VfL Bochum organisieren. Sie brauchen kein Licht im Stadion. Der Schnee, der den Fußballplatz noch geschlossen bedeckt, erhellt die Nacht. In zwei Tagen, am Dienstagabend um halb acht, soll hier der VfL gegen Schalke 04 in der Bundesliga spielen. Heinz Höher, im vierten Jahr Trainer des VfL, hat seine Mannschaft gewissenhaft auf die Partie vorbereitet. Nun wird er dafür sorgen, dass das Spiel gar nicht stattfindet.
    Liese und Höffken wissen, wo der Platzwart, der alte Rickenberg, ein paar Eimer aufbewahrt. Sie füllen sie in den Duschen mit Wasser. Es gibt nur einen Duschraum im Stadion, nach dem Spiel müssen die Mannschaften zusammen duschen, Sieger und Verlierer, Treter und Getretene, wo gibt es das noch in der Bundesliga? Gibt es das überhaupt noch irgendwo in der Bezirksliga, im Jahr 1976?
    Zu dritt schleppen sie die Eimer auf den Fußballplatz. Die Kälte beißt in die Hände. Heinz Höher glaubt, der Metallhenkel des Eimers friere an seinen Fingern fest. Es muss doch kälter als null Grad sein.
    Sie fangen am rechten Strafraum an. Heinz Höher hat keinen detaillierten Plan. Er hatte einfach gedacht, sie würden das Spielfeld vereisen. Aber nun merkt er, welche Arbeit das ist. Er schüttet das Wasser aus, und es bildet sich gerade einmal eine Pfütze auf dem Schnee. Wie viele Eimer Wasser würden sie für den gesamten Fußballplatz brauchen? Zehntausend? Hunderttausend? Stumm laufen sie zwischen Duschraum und Strafraum hin und her, über 150 Meter für einen Eimer, für eine Pfütze. Wenigstens gefriert das Wasser in Windeseile auf dem Schnee.
    Mitternacht ist vorbei, als sie beide Strafräume vereist haben. Das muss genügen.
    Am nächsten Morgen gibt die automatische Telefonansage auf der Geschäftsstelle des VfL weiterhin Auskunft: »Das Bundesligaspiel des VfL gegen Schalke 04 findet am Dienstag, 17. Februar, um 19:30 Uhr statt. Stehplatzkarten sind an der Abendkasse noch zur Genüge zu erwerben. Ende der Durchsage. Danke für Ihren Anruf.«
    20000 Zuschauer werden erwartet. In den Ruhr Nachrichten schreibt Sportredakteur Franz Borner: »Wenn es gegen den Schalker Rivalen ging, hat sich der VfL mehr als einmal selbst übertroffen. Also möge dieser Wunsch einem Befehl gleichkommen: Übertreffe dich selbst, VfL, und übertreffe nicht zuletzt die Schalker!« Wo kommt auf einmal der Enthusiasmus beim Borner her? Er nervt Höher schon seit Monaten mit seinen Sticheleien.
    Im Wohnzimmer der Familie Höher in der Kaulbachstraße 26 klingelt das graue Telefon. Es gibt neuerdings auch bunte Telefonapparate, aber dafür verlangt die Deutsche Post 1,10 Mark zusätzlich im Monat. Liese ist dran. Um zwölf treffe sich die Kommission der Stadt Bochum im Stadion, um zu prüfen, ob der Fußballplatz bespielbar sei.
    Noch immer dringt Kaltluft
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