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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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nie passieren könnte, und er macht einen bewussten Versuch, daraus aufzutauchen.
    Schließlich reißt ein wildes Hämmern an der Tür Xavier aus dem Traum und den vergangenen Zeiten, die er verwackelt wiederaufleben lässt. Sofort sitzt er aufrecht im Bett. Das Hämmern hört auf, dann fängt es wieder an. Durch die zugezogenen Vorhänge leuchtet ein gedämpftes Weiß, und Xavier fällt der Schnee von letzter Nacht wieder ein. In dem T-Shirt und den Boxershorts, in denen er geschlafen hat, wankt Xavier zur Tür und öffnet sie vorsichtig.
    Zuerst sieht es aus, als wäre niemand da. Aber als Xavier hinuntersieht, steht auf Kniehöhe ein dreijähriger Junge, ziemlich überrascht über den Erfolg seines Türhämmerns, und überlegt, was er als nächstes tun soll. Xavier und Jamie – der im Erdgeschoss wohnt und eines Tages einen Antikörper gegen zwei Arten von Krebs entwickeln wird – sehen einander an.
    Bevor einer von beiden etwas sagen kann, ist Jamies Mutter die Treppe hochgekommen und steht auf dem Absatz.
    »Komm her, Jamie! JAMIE !«, schreit sie und sagt dann zu Xavier: »Oh je, das tut mir so leid!«
    »Ist schon in Ordnung«, sagt Xavier.
    »Du kannst doch nicht einfach den Mann da stören«, schimpft sie mit ihrem Sohn, der sich energisch gegen ihre Versuche wehrt, ihn an die Hand zu nehmen. »Los komm.«
    Jamie brüllt irgendwas über Schnee.
    »Ja, wenn Mamis Päckchen da ist, gehen wir raus in den Schnee.«
    Jamie schüttelt den Kopf und haut mit seiner kleinen Faust gegen einen Heizkörper; das Päckchen ist keine annähernd gute Ausrede. Er stöhnt und hüpft herum wie ein Hund an einer zu kurzen Leine.
    Seine Mutter, die Mel heißt, sieht Xavier an und verzieht das Gesicht.
    »Das tut mir wirklich leid.«
    »Schon in Ordnung«, sagt Xavier.
    Sie sehen sich ein paar Sekunden lang verlegen an. Mel schämt sich: Das war wieder einmal der beste Beweis, dass sie ihren Sohn nicht im Griff hat. Auch Xavier ist die Situation unangenehm, denn obwohl Mel weiß, dass er nachts arbeitet, ist es irgendwie peinlich, gerade erst aufgewacht zu sein, wenn der andere offensichtlich schon seit Stunden auf den Beinen ist. Mel kommt sich vor wie eine schlechte Mutter, weil es keinen Vater gibt, der mit Jamie hinaus in den Schnee gehen könnte, denn ihre Ehe endete im letzten Jahr mit gegenseitigen Anfeindungen, und sie wird das Gefühl immer noch nicht los, dass jeder, der davon weiß, schlecht über sie denkt. Nach einigen Sekunden stummer Beschämung lächeln sich die beiden verlegen an, und Mel verschwindet die Treppe hinunter, im Schlepptau den widerwilligen Jamie.
    Jamies Ungezogenheiten begannen, lange bevor Mels Mann seine Sachen packte, eigentlich kurz nach jenem Abend – Xavier erinnert sich noch sehr gut –, als am Straßenrand ein schwarzes Taxi hielt und das bald darauf geschiedene Paar mit seinem neuen Prunkstück in einem Babykorb triumphierend ausstieg. Xavier, der einen freien Abend hatte – es muss also ein Freitag oder ein Samstag gewesen sein –, staunte darüber, wie winzig ein Mensch sein konnte, und wie dieses träge Etwas mit seinen fast unsichtbar kleinen Fingernägeln ein ganzes, kompliziertes Leben fix und fertig vor sich haben konnte. Das heißt, falls Leben tatsächlich fix und fertig im Voraus geplant sind, wie Xavier es sich gern vorstellt.
    Fast von diesem ersten Abend an machte der neue Bewohner der Bayham Road Nr. 11 Eindruck. Wenn Xavier um halb fünf Uhr morgens nach der Sendung nach Hause kam, waren die Lichter im Erdgeschoss an, und die Schatten der frisch gebackenen Eltern huschten über die Vorhänge. Morgens hörte er den Mann, Keith, schwerfällig zur Arbeit schlurfen, und am frühen Abend drangen die müden Streitereien der beiden zu ihm hoch. Aber Jamie hatte über bloßes Lärmen hinaus eine besondere Begabung zum Unheilstiften. Er aß die erste Seite des neu eingetroffenen Telefonbuchs, das im Hausflur lag. Seine dicken Fingerchen kniffen in eine Messscheibe des Stromzählers und setzten ihn auf Null zurück, sehr zum Erstaunen des Ablesers, der allen Hausbewohnern eine Strafgebühr aufdrückte. Jamie lauerte auf der Treppe und rammte Besuchern aus dem Hinterhalt seine Spielzeugbohrmaschine oder sein Feuerwehrauto in die Knie. Besonders beunruhigend ist seine neue Angewohnheit, zur Tür hinauszuschießen, sobald sie offen ist, und zu tun, als würde er auf die viel befahrene Straße rennen, die vor dem Haus mit seinen drei übereinanderliegenden Wohnungen
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