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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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entlangführt.
    Seine Mutter folgt ihm auf Schritt und Tritt, immer drei Sekunden zu spät, strampelt sich ab, um seine neueste Entdeckung aus seinem Mund fernzuhalten oder ihn auf dem Weg zu irgendeiner Gefahr zu bremsen, und verzieht zu jedem, der gerade Zeuge ist, entschuldigend das Gesicht.
    Schlafen kann ich jetzt auch vergessen, denkt Xavier, obwohl er erst vor Kurzem zu Bett gegangen ist. Draußen krakeelen Kinder, etwas älter als Jamie. Die meisten Schulen in der Gegend sind geschlossen. In der Wohnung über ihm ist es still: Tamara, die städtische Angestellte, die dort wohnt, würde jetzt normalerweise schon arbeiten, nachdem sie geräuschvoll an Xaviers Tür vorbeigestöckelt wäre. Aber wie mehr als die Hälfte von Londons arbeitender Bevölkerung wird sie heute zu Hause bleiben. Heute ist kein Tag wie jeder andere.
    Im Spülbecken in der Küche tummeln sich schmutzige Tassen und Teller, und in den Schränken stehen allerlei Lebensmittel, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Xavier wohnt seit fünf Jahren in dieser Mietwohnung, und währenddessen ist sie zwar nicht direkt heruntergekommen, aber doch wenigstens in eine Art Erstarrung verfallen. Wenn ich eine Freundin hätte, würde ich mir vielleicht mehr Mühe geben, überlegt Xavier, und ihm fällt die Verabredung zum Speed-Dating am Abend wieder ein. Er stellt den Wasserkocher an und verflucht Murrays Überredungskünste oder was auch immer es gewesen sein mochte. Pures Mitleid vielleicht. Wie alle Single-Veranstaltungen hat der Abend schon im Voraus etwas Verbissenes. Vielleicht wird er abgesagt wegen des Wetters, aber Xavier bezweifelt das: Wer unerschrocken genug ist, um sich bei einem Dating-Abend anzumelden, wird sich wohl kaum von Frost abschrecken lassen, nicht einmal von so strengem wie diesem.
    Am frühen Nachmittag geht Xavier aus dem Haus, um einzukaufen. Der Himmel hängt als farblose Masse über London, regungslos, als ob ihm sein Ausbruch letzte Nacht ein wenig peinlich wäre. Die Gehwege sind glatt, mit vereisten Stellen zwischen Schneematsch voller Schuhabdrücke. Die Luft fühlt sich kalt an, wie Besteck in einer vergessenen Schublade. Xavier versteckt die Hände in den Ärmeln seines Mantels. Der Besitzer des Eckladens, ein fröhlicher, bauchiger Inder mittleren Alters, der in drei Jahren sterben wird, packt Xaviers Sachen in eine blaue Plastiktüte, bevor Xavier sagen kann, dass er selbst eine mitgebracht hat. Xavier will nicht kleinlich wirken und hält den Mund.
    Auf dem Rückweg den Hügel hinab fällt ihm auf der anderen Straßenseite etwas auf. Von einem Klumpen schwarzer Jacken geht ein heiserer Sprechchor aus, die sorgfältig modulierten Stimmen Halbwüchsiger, die um eine Art Bündel auf dem Boden herumstehen. Als Xavier näher kommt, sieht er, dass das Bündel ein weiterer Junge ist, der sich krümmt und windet, während ihm fünf andere Jugendliche abwechselnd Schnee auf den Kopf werfen. Der niedergestreckte Junge, etwas kleiner als die anderen, stößt einen schrillen Schrei aus und will aufstehen, aber seine Peiniger stoßen ihn immer wieder zu Boden. Seine Schreie gehen in durchdringendes, elendes Schluchzen über. Einer der größten Jungen geht ein Stück beiseite, bückt sich und hebt eine Zwei-Handschuh-Ladung Schnee auf, die er zu einem Klumpen zusammendrückt und auf den Kopf seines Opfers fallen lässt. Alle gackern. Der Junge in der Mitte liegt jetzt wie ein niedergerissenes Zelt vor den Füßen seiner Angreifer, halb begraben unter Schneebrocken.
    Xavier sieht sich verstohlen um: Außer ihm ist niemand da, der eingreifen könnte. Er nähert sich der Gruppe. Sie kratzen eifrig noch mehr Schnee zusammen und beachten ihn nicht.
    Er räuspert sich.
    »Hört auf damit«, sagt er, und seine normalerweise volle Stimme klingt in der kalten Luft dünn und zögerlich.
    Ein paar Jungen sehen auf. Xavier durchfährt ein Schauder. Sie sind älter und kräftiger, als sie von der anderen Straßenseite aus gewirkt hatten, und er hätte kaum eine Chance, wenn sie alle gleichzeitig auf ihn losgingen.
    »Verpiss dich«, sagt einer der Jungen.
    »Lasst ihn in Ruhe«, sagt Xavier.
    Jetzt sehen sie ihn alle an.
    »Was willst du denn machen?« Der Anführer, von dem diese Provokation kommt, hat fiese Augen, einen schlaffen, verächtlichen Mund und Bartflaum auf der Oberlippe.
    Xavier zögert.
    Ein anderer sieht aus, als wollte er auf ihn losgehen, er macht mit ausgestreckter Faust vier, fünf schnelle Schritte auf ihn zu. Xavier
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