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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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Haltestelle stand ein obdachloser Alter mit einer Baseball-Kappe und einer Dose Lager in der Hand. Chris sagte höflich Hallo, und die beiden standen eine Weile still da und sahen zu, wie auf der anderen Straßenseite die Bahnen vorbeiratterten. Hinter ihnen klebte ein Mädchen Plakate für eine Rockband an eine Backsteinmauer. Chris dachte an Matilda, der er am Tag davor bei einem Trampolinwettbewerb zugesehen hatte. Jedes Mal, wenn sie gen Himmel flog, stellte er sich vor, hochzuspringen und sie in der Luft aufzufangen. Der Alte begann, vor sich hin zu singen, und sah freundlich zu Chris hinüber. Er wirkte wie ein Trinker, aber ein harmloser: einer, der im Leben so viel gebechert hat, dass er nie wieder richtig betrunken sein wird, aber auch nie wieder ganz nüchtern.
    Er zwinkerte Chris zu.
    »Na, wie war der Tag?«
    »Ganz gut. War gerade im Kino.«
    »Im Kino!« Der Alte gluckste. »Weißt du, wie lange ich schon nicht mehr im Kino war?« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das muss zwanzig Jahre her sein.«
    Chris wusste nicht recht, was er antworten sollte, und fragte: »Und … und wie war Ihr Tag?«
    »Weißt du«, sagte der Fremde, »ich werde nächsten Monat achtzig. Ein Wahnsinnsalter, nicht wahr?«
    »Ja, ziemlich gut«, stimmte Chris zu.
    »Wenn man so alt wird wie ich, will man über vieles lieber nicht nachdenken. Deshalb hab ich so eine Gruft im Kopf, weißt du, da kommt das alles rein.«
    Er fingerte mit einer Zigarette herum und fischte mit zittriger Hand ein abgewetztes Feuerzeug aus seiner Jackentasche. Chris nahm die Zigarette und zündete sie für ihn an.
    »Ich sage mir einfach, das ist jetzt in der Gruft«, fuhr der Alte fort. »Und passe auf, dass ich da nicht reingehe. Die ist abgeschlossen, verriegelt und verrammelt. Sogar für mich selber. Ich hab keine Ahnung, wo der Schlüssel ist.« Er lächelte Chris an, wobei erstaunlich gute Zähne zum Vorschein kamen.
    Eine Straßenbahn nach der anderen surrte vorbei. Im Laufe der nächsten Stunde erzählte der Mann Chris, dass seine Frau in jungen Jahren starb und sein Bruder, ein Angehöriger der australischen Truppen, 1944 fiel. Seine Söhne waren beide eine Enttäuschung: Einer hätte Fußballer werden können, war aber zu faul, und der andere war nach Frankreich gegangen und hatte sich, wie der Mann es nannte, »mit Künstlern und Rauschgiftsüchtigen eingelassen«. Das Geschäft des Mannes, ein kleiner Lebensmittelladen, wurde im Laufe einiger Jahrzehnte von den neu aufkommenden Zeitungsshop-Ketten, den 7-Eleven-Geschäften und dem ganzen Rest in den Ruin getrieben. Mit Anfang vierzig merkte der Mann, dass er sich zu jungen Männern hingezogen fühlte und niemals in der Lage sein würde, dieses Verlangen zu stillen. Mitte der Siebziger unterschlug er Geld, um sein Geschäft anzukurbeln, und als die Sache mehr als zehn Jahre später ans Licht kam, ging einer seiner besten Freunde dafür ins Gefängnis. Und so weiter und so fort.
    »Jep, ist so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen kann«, fasste der Alte zusammen und zeigte ein weiteres Mal seine Zähne. »Und ich weiß zwar, dass das alles passiert ist – ich hab’s dir ja gerade erzählt –, aber ich denk nicht dran. Ich geh einfach nicht in die Gruft. Verstehst du?«
    »Und Sie wollen die … die Gruft wirklich nicht mal aufmachen?«, fragte Chris. »Einfach, um das mal aus dem Kopf zu kriegen?«
    Der Alte zündete sich noch eine Zigarette an, hustete und grinste.
    »Wenn ich weiß, dass ich sterbe«, sagte er, »in der letzten Stunde vielleicht, dann mach ich sie mal auf und denk gründlich über alles nach, und dann denk ich mir, gut, das war’s jetzt, worüber hast du dir eigentlich so einen Kopf gemacht?«
    Als die nächste Straßenbahn kam, wurden die Augen des Alten auf einmal wässrig und flehend, und er packte Chris am Ärmel und bat ihn um einen Dollar. Chris drückt ihm einen Zehner in die Hand und stieg in die Bahn.
    Als die Viererfreundschaft älter und komplexer wurde, wurde er mehr und mehr zum inoffiziellen Anführer der Viererbande, der Lebenstüchtigste von allen. Oft brauchte Russell seine Hilfe: Er behielt einfach keinen Job, nicht einmal einen, bei dem er im Karottenkostüm Flyer für eine Saftbar verteilen musste, er war chronisch pleite, und Bec wurde einfach nicht schwanger. Chris’ zwanzigjährige Freundschaft mit Russell war in vieler Hinsicht eine gute Vorbereitung auf die Arbeit mit Murray: derselbe Typ Mann, ein pummeliger
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