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Lied des Schicksals

Lied des Schicksals

Titel: Lied des Schicksals
Autoren: Merice Briffa
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    D er Junge hockte hinter einem niedrigen Akazienbusch, dessen süßer, pulvriger Duft ihm in die Nase stieg. Die Sonnenstrahlen, die durch die farnartigen Blätter drangen, überzogen seinen Körper mit einem filigranen Muster aus Licht und Schatten. Er war barfuß, der Oberkörper nackt wie bei seinen Vorfahren, doch er trug eine dunkelbraune Hose. Ohne Schuhe konnte er sich völlig lautlos bewegen. In dem Wechselspiel von Licht und Schatten schien seine dunkle Haut mit dem Gebüsch zu verschmelzen, hinter dem er wie ein Jäger verborgen auf der Lauer lag. Eine leichte Brise wehte ihm ins Gesicht und trug den Geruch der Tiere zu ihm herüber. Zwei große Östliche Graue Riesenkängurus lagen, wie meistens tagsüber, träge im spärlichen Schatten eines dürren Baumes, dessen Blätter trocken und schlaff in der Sommerhitze herabhingen. Ein drittes Känguru, ein junger Bock, stand allein unter freiem Himmel.
    Der Jagdspeer lag perfekt in der Hand des Jungen. Einen Moment lang erfüllte ihn das mit einem gewissen Stolz. Schließlich hatte er den Speer selbst angefertigt. Dann holte er aus, warf und traf. Der junge Bock fiel tot um. Die beiden Kängurus unter dem Baum schreckten auf, spitzten wachsam die Ohren und verharrten einen winzigen Augenblick reglos, bevor sie rasch davonsprangen. Ohne jede Eile ging der Junge zu seiner Beute hinüber, zog den Speer heraus, warf sich das tote Tier über die Schulter und machte sich auf den Weg zu seinem Lager.
    Dort begann er, das Känguru so zu häuten, wie sein Stiefvater es ihm beigebracht hatte. Mit einem scharfkantigen Stein schabte er anschließend die Fleischreste von der Innenseite des Fells. Er hätte auch sein Messer benutzen können, doch er hatte sich entschlossen, wie ein echter Aborigine zu leben. Der Zorn, der in ihm schwelte, trieb ihn dazu, sich von allem zu distanzieren, was mit den Weißen zu tun hatte. Wenn diese ihn wie einen ungebildeten Aborigine behandelten, dann wollte er auch wie einer leben.
    Als das Fell innen sauber war, rollte er es zusammen und legte es zur Seite. Später würde er es zwischen in den Boden getriebenen Pfählen aufspannen und trocknen lassen. Zunächst musste er seinen Hunger stillen. Nachdem er ein großes Stück aus dem Hinterteil des Kängurus herausgeschnitten und zum Braten auf sein Feuer gelegt hatte, begann er vorsichtig, die kräftigen Sehnen aus den Hinterbeinen des Tieres herauszuziehen. Die könnte er vielleicht eines Tages brauchen, um eine Speerspitze an einem neuen Schaft zu befestigen.
    Seit drei Tagen lebte er bereits allein im Busch und ging sorgsam den wenigen Aborigines aus dem Weg, die er sah. Schon mit acht Jahren hatte er sich gekonnt darauf verstanden, sich völlig lautlos und unbemerkt an jemanden heranzuschleichen. Ebenso geschickt war er bereits damals darin, seine Spuren zu verwischen, wenn er nicht wollte, dass ihm jemand folgte. Nun, vier Jahre später, war er überzeugt, dass niemand seinen Lagerplatz finden würde, es sei denn, er wollte es.
    In seinem jugendlichen Übermut hatte er vergessen, dass sein Stiefvater, ein Mischling genau wie er, ihm seine Aborigine-Fertigkeiten beigebracht hatte, und so hatte Darcy keine Ahnung, dass irgendjemand in der Nähe war, als Nelson plötzlich vor ihm stand. Im Gegensatz zu Darcy war sein Stiefvater vollständig bekleidet und trug Stiefel. Die hätten eigentlich genügend Lärm machen müssen, um ihn zu warnen, dass Nelson sich näherte. Wäre er ein hellhäutiges Mädchen gewesen, wäre Darcy sicher vor Verlegenheit rot geworden, weil man ihn überrumpelt hatte. Er mochte zwar gut sein, doch sein Stiefvater hatte ihm eindeutig bewiesen, wer von ihnen beiden das Leben im Busch besser beherrschte.
    Nelson hockte sich auf die andere Seite des verglühenden Feuers. »Hast du noch was von dem Kängurufleisch übrig?« Es roch immer noch köstlich nach Darcys Mahlzeit.
    Wortlos reichte Darcy ihm die Portion, die er sich für später aufgehoben hatte. Während er seinen Stiefvater beim Essen beobachtete, fragte er sich ziemlich beklommen, worin wohl seine Strafe bestehen könnte. Er war sicher, dass sie hart ausfallen würde. Nelson schwieg, während er das Fleisch aß. Auch beachtete er seinen Stiefsohn nicht sonderlich. Ihn schien mehr zu interessieren, wie Darcy sein Lager aufgeschlagen hatte.
    Â»Wie ich sehe, hast du
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