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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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Junge vor ihm den Waldweg entlangwackelt. Im Blätterbaldachin über ihnen zwitschern die Vögel. Es ist ein gräulicher, ziemlich kalter Morgen mitten in der Woche. Ein großer rotbrauner Hund, der sein Herrchen spazieren zu führen scheint statt umgekehrt, kommt schwanzwedelnd angelaufen, und Jamie tätschelt ihm den Kopf. Der Hund schnüffelt freudig an Jamie und steckt seine glänzende Nase in die Handfläche des Jungen. Der Hundebesitzer und Xavier tauschen einen amüsierten Blick aus, während sie auf ihren jeweiligen Schützling warten. Xavier fällt auf, dass jeder, der vorbeikommt, ihn für Jamies Vater halten muss.
    An der alten Eisenbahnbrücke, genau auf der Hälfte des Weges nach Highgate, sprüht ein Teenager in einer weißen Kapuzenjacke ein purpurrotes Graffiti-Tag an die Mauer. Er wirft den beiden einen gleichgültigen Blick zu und widmet sich wieder seinem Werk.
    Jamie zupft an Xaviers Ärmel.
    »Was macht der da?«
    »Der, äh … Also, das heißt Graffiti. Eine Art Malen, er malt an die Wand.«
    »Warum?«
    »Na ja, das machen manche Leute eben. Es gefällt ihnen.«
    »Aber warum malen sie nicht auf Papier?«
    »Na ja, weil sie … weil sie wollen, dass die Leute ihre Bilder sehen, wenn sie vorbeigehen.«
    »Warum?«
    »Das ist eine gute Frage«, räumt Xavier ein.
    An der Eisenbahnbrücke machen sie kehrt und gehen langsam wieder zurück, wobei Jamies kleine Schuhe zielsicher in den Pfützen landen, die der leichte Regen der vergangenen Nacht hinterlassen hat.
    »Pass auf, mach dich nicht schmutzig«, sagt Xavier. »Deine Mum wird nicht sehr erfreut sein.«
    »Nein«, gibt Jamie zu.
    »Meinst du, du könntest ihr vielleicht ein bisschen weniger Sorgen bereiten, Kumpel? Wenn du vielleicht … na ja, nicht immer so viel herumbrüllen würdest?«
    Jamie bedenkt diesen Vorschlag scheinbar unbekümmert, nickt aber immerhin halb, bevor er ein vielversprechendes Stöckchen entdeckt und losrennt.
    Viele Jahre später wird dieser Spaziergang eine von Jamies frühesten Erinnerungen sein; er wird sich fragen, wer Xavier war, wie es dazu kam, dass sie dort spazieren gingen und was seine Mum wohl währenddessen tat. Diese Erinnerung wird ganz von selbst an die Oberfläche seiner Gedanken treiben, während er eines Nachts wach liegt und über die Ergebnisse eines Experiments nachdenkt – eines Experiments, das endgültig den Weg für den Antikörper ebnet, der vielen Menschen das Leben retten wird, unter anderem der noch ungeborenen Enkelin des indischen Ladenbesitzers.
    Xavier schnappt Jamies Arm, und gemeinsam lassen sie ein Auto vorbei, das sich den Berg hoch quält.
    »Danke für den Spaziergang«, sagt Jamie ernst.
    »Danke dir«, erwidert Xavier mit derselben Ernsthaftigkeit. »Vielleicht machen wir ja mal wieder einen.«
    »Ja, vielleicht«, stimmt der Junge zu.
    Xavier bringt Jamie zurück zu Mel, die im Bademantel die Tür öffnet, in der Hand ein Buch; sie sieht aus, als wäre ihre Stunde Freiheit ein ganzer Tag gewesen.
    »War er artig?«
    »Hätte nicht artiger sein können«, sagt Xavier, und Jamie geht ruhig zu seiner Mutter zurück.
    Wieder in seiner Wohnung, ist Xavier plötzlich fix und fertig. Er setzt sich schwerfällig aufs Sofa und merkt, dass sein Herz rast. Es war seit jenem Abend in Melbourne das erste Mal, dass er allein für ein Kind oder überhaupt irgendetwas Nennenswertes verantwortlich war. Er sitzt lange Zeit reglos da und lauscht dem gedämpften Plappern des Fernsehers von unten.
    In London ist es später Vormittag, Abend in Australien, und eine Stunde, nachdem Xavier von dem Spaziergang mit Jamie zurückgekommen ist, ruft Xavier endlich seine Mutter an. Er will ihr von Pippa erzählen, es gibt viel Neues, aber er ahnt schon, dass das Gespräch ungeachtet seiner Pläne früher oder später wieder nach dem üblichen Muster ablaufen wird: Ihre Fragen werden ihn ärgern, und jeder wird das, was der andere sagt, irgendwie in den falschen Hals bekommen, erst recht mit der Entfernung und der Zeitverschiebung. Trotzdem hat er das Gefühl, der Anruf ist längst überfällig. Das Telefon klingelt zwölftausend Meilen entfernt in seinem Elternhaus, der einzelne Ton ist langsam und zögerlich, scheint mit jedem Mal langsamer zu werden, denkt Xavier, als würde er genau wie seine Mum älter werden. Sie nimmt nicht ab. Ein mulmiges Gefühl steigt in Xavier hoch, die Möglichkeit war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Wo könnte seine achtundsechzigjährige Mutter abends um zehn Uhr
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