Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elben Drachen Schatten

Elben Drachen Schatten

Titel: Elben Drachen Schatten
Autoren: Alfred Bekker
Vom Netzwerk:
sie angreifen würde. Und wenn, dann sicherlich mit Magie, und gegen die nutzte selbst eine scharfe Elbenklinge nichts.
    Branagorn folgte dem Beispiel seines Königs, wenn auch nur zögernd.
    »Die Wege des Schicksals?«, wiederholte der Augenlose. »Nun, ich vermag ihre Gabelungen zu erkennen. Aber ich sehe auch anderes …«
    »Bei jemandem, der keine Augen hat, klingt das …« Keandir verstummte.
    »… vermessen?«, fragte der Augenlose und lachte heiser; dabei benutzte er anders als beim Sprechen den Mund. Aus der zahnlosen dunklen Höhle drang uralter Atem von fast betäubender Intensität.
    Ein Schauder erfasste Keandir, und Branagorn war anzusehen, dass es ihm keineswegs anders erging. Mit ihren feinen Elbensinnen empfanden sie beide den Gestank als nahezu unerträglich. Aber immerhin hatte der Seher ohne Augen ihnen das Leben gerettet – und Keandir fand, dass dieser Umstand ein gewisses Maß an Vertrauen rechtfertigte.
    Keandir erinnerte sich an das düstere Geraune, das er schon am Strand vernommen hatte. Er war plötzlich sicher, dass es die Stimme des Augenlosen gewesen war.
    Dieser bewegte den Kopf, fast so, als würde er den König mustern. »Ich blicke in Eure Seele, König Keandir. Und dabei sehe ich gleichermaßen den Triumph und die Abgründe. Manchmal liegt beides sehr nahe beisammen …«
    »Seht Ihr auch die Gabelungen meines Schicksals?«, fragte Keandir.
    »Ja.«
    »Dann möchte ich mehr darüber wissen!«
    »Ihr steht an einer solchen Gabelung. Eure Zukunft, die Vergangenheit und das, was gegenwärtig ist – all dies liegt offen vor mir.« Der Augenlose kicherte. »Eine Geburt wird das Schicksal Eures Volkes verändern – und ganz besonders das Eure.«
    »Redet weiter!«, forderte der König, dem natürlich sofort Ruwens Schwangerschaft in den Sinn kam.
    »Es wird eine Zwillingsgeburt sein.«
    »Zwillinge?«, fragte Keandir ergriffen. Er starrte den Augenlosen ungläubig an. »Ist das wahr?«
    »Ja, ich sehe es ganz deutlich.«
    War es möglich, dass Ruwen gleich in zweifacher Weise gesegnet war? Schon die Geburt eines einzelnen Kindes war unter den Elben eine Besonderheit, die als außerordentlich glückliche Fügung und Geschenk der Götter betrachtet wurde. Noch viel seltener und verheißungsvoller war aber die Geburt von Zwillingen.
    Wenn es tatsächlich so sein sollte, musste dies Keandirs Meinung nach ein Zeichen der Götter sein. Ein Zeichen, dachte er, das uns helfen wird, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft des Elbenvolks zu treffen …
    »Ich muss mehr über die Zukunft wissen!«, sagte Keandir geradezu beschwörend ― denn in diesem Moment sah er die Möglichkeit, all die schwere Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, zu mindern. Wie viel leichter fiel doch eine Entscheidung, wenn man sich sicher sein konnte, dass man auf dem richtigen Weg war. Keandir wusste nicht mehr, wann die Elben diese Gewissheit verloren hatten. Es musste lange her sein. Er selbst war erst während der Reise geboren worden, und da war jene Epoche längst vorbei gewesen, in der die Elben genau gewusst hatten, wo ihr Ziel lag und was ihre Bestimmung war; und in seiner Kindheit war diese Gewissheit nur noch eine verblassende Erinnerung gewesen.
    »Es steht Euch frei, Fragen zu stellen, Weggenosse eines flüchtigen Moments«, antwortete der Augenlose. In seinem Gesicht regte sich dabei nicht ein Muskel. Doch die Stirnpartie mit den fehlenden Augenhöhlen war dem König der Elben zugewandt, sodass Keandir trotz allem das Gefühl hatte, dass sein Gegenüber ihn ansah ― wenn auch vielleicht eher auf geistiger Ebene, wozu das Vorhandensein von Augäpfeln nicht nötig war.
    Keandir schauderte bei dem Gedanken, welch monströser, uralter und vielleicht auch bösartiger Geist hinter dieser gesichtslosen Stirn verborgen sein mochte. Ein Geist, der seit Äonen mit Spott und Zynismus die Welt beobachtete. Einsam und lebendig begraben in einer Höhle ohne Ausgang, die sich nur mit magischen Mitteln verlassen oder betreten ließ.
    Die aufgesprungenen, schorfigen Lippen des zahnlosen Mundes pressten sich aufeinander und verzogen sich zu einem hämischen Lächeln. Blanke Überheblichkeit klang in seinen Worten, als der Seher fortfuhr: »Mir steht es allerdings frei, Euch zu antworten oder dies nicht zu tun – ganz wie es mir meine Verantwortung gegenüber dem Schicksal oder einfach nur meine Laune einflüstert.« Der Augenlose Seher näherte sich. Er hielt Keandir beide Stäbe entgegen – den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher