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Elben Drachen Schatten

Elben Drachen Schatten

Titel: Elben Drachen Schatten
Autoren: Alfred Bekker
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Verwesung oder Verfall. Das Atmen wurde heftiger und ging in ein Röcheln über, das vibrierte und zischte.
    »Sprich, Geschöpf der Finsternis!«, rief Keandir, der in seine Stimme alle Entschlossenheit und Autorität legte, zu denen er noch fähig war. »Ich bin König Keandir, Herrscher der Elben! Nun sage mir, wer du bist!«
    Wieder erhielt er keine Antwort. Stattdessen loderte plötzlich eine Flamme auf. Dann eine weitere. Innerhalb weniger Augenblicke entzündeten sich ein halbes Dutzend Fackeln, die in metallenen Halterungen an den Wänden angebracht waren. Schatten tanzten über den Fels und über die blassen Gesichter der Elben.
    Eine massige und auf zwei dicke Wanderstäbe gestützte Gestalt stand gekrümmt vor den beiden Elben. Der unförmige, verwachsene Körper war von einem groben Gewand aus grauem Tuch bedeckt. Das Erschreckendste war der kantige, unregelmäßig geformte Kopf mit dem ebenso deformierten Gesicht. Der Mund stand offen und war vollkommen zahnlos. Darüber prangte eine breite, knollige Nase. Doch dort, wo eigentlich die Augen hätten sein müssen, war ― nichts.
    Gar nichts!
    Nicht einmal Höhlen.
    Die Haut spannte sich über den Schädel. Die Stirn begann schon in Höhe der Wangenknochen.
    Der Augenlose trat einen Schritt näher. Mit seinen knorrigen, sechsfingrigen Händen umfasste er die beiden Wanderstäbe. Der zur rechten war aus einem hellen Holz, das plötzlich für einen kurzen Moment von innen heraus zu strahlen schien. Schnitzereien bedeckten den gesamten Stab. Gesichter, die an Totenmasken erinnerten. Oben auf dem Stab thronte die Figur eines geflügelten Wesens, das große Ähnlichkeit mit einem Affen hatte. Die Figur war aus purem Gold.
    Der zweite Stab glich dem ersten von der Größe und Form her, nur dass er aus dunklem Ebenholz war. Zahllose winzige Figuren waren hineingeschnitzt. Geisterhafte Totems mit verzerrten Gesichtern. Auf der Spitze dieses Stabes steckte ein Totenschädel, der jedoch nicht größer als eine elbische Faust war.
    »Ich selbst brauche das Licht nicht – aber für Euch ist es angenehmer so, König Keandir.« Dem Elbenkönig fiel auf, dass der Augenlose zwar sprach, sich sein Mund aber nicht bewegte. Keandir war sich nicht sicher, ob er die Worte seines Gegenübers tatsächlich mit den Ohren hörte oder eine Geisterstimme direkt mit seiner Seele sprach. Der Augenlose hob den Stab mit dem Totenkopf leicht an, woraufhin sich drei weitere Fackeln entzündeten. Eine davon steckte kaum anderthalb Schritte vom König entfernt in einem Eisenring an der Felswand. Keandir stellte fest, dass keinerlei Wärme von den Flammen ausging. Sie hatten es offenkundig mit Zauberei zu tun. Es war alles nur eine magische Illusion.
    »Nur durch Hexerei kann man sich bei den geflügelten Bestien, die dort draußen lauern, einigermaßen Respekt verschaffen«, sagte der Augenlose, und erneut schallte seine Stimme nur in den Köpfen der beiden Elben. »Ich lebe schon so lange hier ― da weiß ich inzwischen, wie man sie sich vom Leib hält. Es ist auch nicht schwer zu lernen.«
    Keandir warf Branagorn einen schnellen Blick zu und sah an dessen Gesichtsausdruck, dass er die Stimme ebenfalls vernahm. Dann schaute er wieder den Augenlosen an. So abstoßend dessen äußere Erscheinung auch sein mochte, er klang durchaus vertrauenerweckend. »Wer seid Ihr?«, fragte der Elbenkönig.
    »Es ist lange her, dass man mich mit einem Namen ansprach. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder daran gewöhnen kann. Es ist überhaupt lange her, dass sich jemand in diese Höhle verirrte, um mit mir ein Gespräch zu führen. Länger als ein Äon. Die Erde und der Himmel haben seitdem ihre Gestalt verändert, und keine der Arten, die damals die Erde bevölkerten, gibt es noch. Ich bin der Einzige, der aus diesem fernen Zeitalter übrig blieb. Es hat daher auch keine Bedeutung, welchen Namen ich damals trug. Nennt mich einfach den Augenlosen Seher.«
    »Ein Seher seid Ihr?«
    »Ja, kurzlebiger Bruder des Todes.«
    »Unser Volk gilt gemeinhin als sehr langlebig.«
    »Für mich seid ihr wie Eintagsfliegen, kaum der Mühe eurer Geburt wert.«
    Keandir ging nicht auf die Bemerkung ein. Vielleicht wollte ihn der Augenlose mit diesen Worten beleidigen, doch der König der Elben gab sich keine Blöße, indem er darauf reagierte.
    Stattdessen steckte er sein Schwert ein und fragte: »Wenn Ihr ein Seher seid, so vermögt Ihr die Wege des Schicksals vorherzusehen?« Es war nicht anzunehmen, dass der Augenlose
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