Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz
Autoren: Ulrike Rylance
Vom Netzwerk:
jetzt gar nicht auf deinen Namen«, sagte Vanessa mit einem kleinen schiefen Lächeln.
    Und ich nicht auf deinen, hätte ich am liebsten geantwortet, aber damit hätte ich mich nur lächerlich gemacht, jeder wusste, wie sie hieß.
    »Das ist Lena«, stellte Leander mich vor, als wäre ich irgendwie sprachbehindert.
    Vanessa sah mir für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie in diesem kurzen Moment direkt in mich hineinsah. Wie sie meine Unsicherheit erkannte, die ich doch mit Leander an meiner Seite so gut verbergen konnte, wie sie mit einem abschätzigen Blick meine selbst gefärbten Haare betrachtete, meine Steampunk-Kette, die ich nie abnahm, weil sie mir Glück brachte, meine fünf Pfund zu viel, meine Stiefel, die bald auseinanderfielen, weil ich sie nun schon den zweiten Winter trug. Etwas blitzte in Vanessas Augen auf. Etwas, das ich nicht einordnen konnte, das mich aber an ein Tier erinnerte, das Witterung aufnahm. Doch im nächsten Moment war es weg und sie beugte sich vertraulich vor, legte den Arm um mich, als wären wir beste Freundinnen. Ich konnte ihr Parfüm riechen, nach Karamell und irgendeinem Gewürz. »Du trägst dein T-Shirt auf links, Lena«, flüsterte sie in mein Ohr. »Ich wollte es dir nur sagen. Du willst ja sicher nicht, dass jeder gleich deine Größe sieht, oder?«
    Als ich an diesem Abend in meinem Zimmer saß, konnte ich mich nicht auf die verdammten Mathehausaufgaben konzentrieren, die immer noch nicht erledigt waren. Leander war jetzt bei der Bandprobe, nachdem seine Oma unter großem Gezeter zu Hause sein Knie verarztet hatte, während ich nutzlos danebenstand. Nutzlos, das war das richtige Wort. ZumTrösten am Unfallort war ich zu spät gekommen, ich hatte der Frau nicht entgegengeschleudert, dass sie zu schnell gefahren war, und einen Pflasterverband anlegen konnte ich erst recht nicht. Ich starrte auf mein Buch und verstand immer noch kein Wort. Die Graphen von f und g schließen im 4. Quadranten ein Flächenstück ein. Berechne dessen Inhalt!
    Mein Handy summte, ich riss es an mich. Bestimmt schrieb Leander mir eine SMS zurück. Wir hatten so ein Ritual, dass wir uns jeden Abend eine Zeile schickten, um zu signalisieren, dass wir an den anderen dachten. Irgendwas, eine Liedzeile, eine kurze Bemerkung. Vorhin hatte ich ihm geschrieben: Mein Mathebuch und ich sehnen uns nach dir.
    Es war eine SMS, aber nicht von Leander. Von meiner besten Freundin Tine: Was war heute los, hatte L. einen Unfall????
    Woher wusste Tine das? Ich war so durcheinander gewesen, dass ich ihr noch gar nichts davon erzählt hatte.
    Ja. Woher weißt du das? , schrieb ich zurück.
    Von Nessa. Sie war ganz fertig.
    Ich schluckte. Vanessa? Die hatte doch noch nie mit Tine geredet. Und sie war ganz fertig?
    Nichts weiter passiert, er ist ok . Ich rutschte immer wieder mit den Fingern ab, während ich das schrieb.
    Warum braucht er dann ihren Anwalt?
    Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Braucht er nicht . Langsam wurde ich wütend. Was hatte Vanessa da für einen Unsinn verbreitet?
    Tine schickte ein Smiley zurück, das verwirrt mit den Augen klapperte. Warum muss sie sich dann mit ihm treffen?
    Ich ließ mein Handy sinken. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß.
    Noch ein Smiley von Tine. Ich ignorierte sie und schickte Leander eine SMS. Wo bist du? Ruf mich an!
    Er antwortete nicht. Auch nicht, nachdem ich drei weitere SMS hinterhergeschickt und ihn zweimal angerufen hatte. Ich fegte wütend das Mathebuch vom Tisch.
    Und auch nicht, als ich kurz vorm Schlafengehen meine Stiefel packte und in den Müll schmiss. Und das verdammte T-Shirt gleich mit dazu.

4
April
    In der Aula roch es nach Bohnerwachs und dem üblichen Schulmief, kombiniert mit dem Turnschuh-und Deogeruch von fünfzig Schülern aus der 12. Klasse, die ermattet nach vorn stierten. Dort hielt gerade ein Referent einen lähmenden Monolog über seinen beruflichen Werdegang und wie er es zum Software-Entwickler geschafft hatte. Davor hatten eine Physiotherapeutin und ein Architekt von ihrem Berufsalltag berichtet, wobei der Architekt immer wieder nervös auf seine Uhr geblickt hatte und anschließend sofort davongehetzt war. Mich interessierten die Berufe nicht, ich wollte Übersetzerin werden, wenn ich es schaffte, und ich ließ meinen Blick über die dahindämmernde Schülerschar schweifen. Nein, das stimmte nicht ganz. Ich suchte Leanders Blick. Seit dem Unfall hatten wir uns kaum gesehen, mal hier ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher