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Eiskalter Sommer

Eiskalter Sommer

Titel: Eiskalter Sommer
Autoren: Wolf S. Dietrich
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hier schon weg.“
    Röverkamp fand das Zimmer 206, klopfte, hörte nichts, trat ein. Er sah zwei Krankenbetten; beide leer. An einem war ein Pfleger damit beschäftigt, das Laken abzuziehen. „Wo ist Frau Karstens?“, entfuhr es ihm. „Was ist mit ihr?“
    Der Pfleger ließ sich bei seiner Beschäftigung nicht unterbrechen und antwortete über die Schulter: „Keine Ahnung. Fragen Sie im Schwesternzimmer.“
    Suchend wanderte Röverkamp den Flur entlang. Eine junge dunkelhäutige Krankenschwester kamen ihm entgegen. „Entschuldigung“, fragte er, „wo finde ich Frau Karstens? Sie sollte auf Zimmer 206 sein.“
    „Oh, ja, Frau Karstens“, war die Antwort, „bitte folgen Sie mir.“
    Die Schwester führte ihn zum Ende des Flurs bis zu einer Tür, die nicht beschriftet war, und schob ihn in den Raum. Mit den Worten „Bitte warten Sie hier einen Augenblick“ schloss sie die Tür und verschwand.
    Röverkamp fühlte eine Ahnung in sich aufsteigen. Er wehrte sich dagegen – ohne Erfolg. Würde das Wiedersehen mit Amelie Karstens doch anders ausfallen, als er es sich vorgestellt hatte? Als ein Arzt ins Zimmer trat, ihm die Hand entgegenstreckte und fragte: „Sind Sie ein Angehöriger?“ wurde die Ahnung zur Gewissheit, noch bevor der Arzt fortfahren konnte.

    *

    Im Schatten des Vordaches der Produktionshalle hatten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter dicht zusammengedrängt. Evers stand auf einer Palette, die Carlos Rodriguez mit dem Gabelstapler auf einen knappen Meter Höhe gebracht hatte. Er schwitzte. Nicht nur wegen der hohen Außentemperatur. „Kolleginnen und Kollegen“, begann er. „Es gibt nur einen Weg, auf dem wir aus der Misere ...“
    „Die du uns eingebrockt hast“, rief Hannes Fedder dazwischen.
    Evers schüttelte den Kopf. „Dazu komme ich später. Jetzt geht es erst mal um eure Arbeitsplätze. Also um die Zukunft der Firma. Wenn die Banken den Geldhahn zudrehen, weil sie dem Betrieb nicht zutrauen, wieder in die Gewinnzone zu kommen ...“
    „Das wäre unter dem Alten nie passiert!“, rief jemand aus der Menge und erntete Beifall dafür.
    Evers nickte, ging aber auf den Zwischenruf nicht ein. „Wenn also unsere CuxFrisch wieder profitabel arbeiten soll, müssen wir die Firma übernehmen.“
    „Wie soll das gehen?“, rief Hannes Fedder. „Das sind doch Spinnereien!“
    „Wenn du was Besseres weißt“, entgegnete Carlos Rodriguez, „geh’ nach vorne und erklär’s uns!“
    Beifälliges Gemurmel gab Evers Auftrieb. Und er begann, seine vagen Vorstellungen, noch während er redete, zu einem Konzept zu entwickeln und der Belegschaft zu erklären.
    Während alle Augen auf ihn gerichtet waren, schob sich ein Mann, der hinter der Halle seine Motorradkleidung gegen einen blau-weißen Overall mit dem Emblem der CuxFrisch getauscht hatte, langsam hinter der Versammlung entlang und verschwand in Richtung Tiefkühlhalle.

2
    Winter 1978/79

    Frank war eindeutig zu weit gegangen.
    Susanne starrte aus dem Fenster des Rheingoldwagens in die vorbeirasende Winterlandschaft, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Zum ersten Mal benutzte sie den Intercity. In Bremen würde sie in einen Personenzug nach Bremerhaven und dort in den Bus umsteigen müssen. Wenn noch einer fuhr. Im Radio hatten sie ausdauernde Schneefälle für Norddeutschland vorhergesagt. Aber in ihrer Heimat war es noch nie besonders winterlich gewesen. Sie würde ihr Elternhaus erreichen. Vor ihrem inneren Auge sah sie das bäuerliche Anwesen, wie es sich in die Landschaft außerhalb des Dorfes duckte, sah den Rauch aus dem Schornstein kräuselnd aufsteigen und ihren Vater in Gummistiefeln mit dem Futtereimer den Hof überqueren.
    Die Fahrkarte für den „Rheingold“ war viel zu teuer gewesen, denn in diesem Zug gab es nur die erste Klasse. Aber sie hatte München so schnell wie möglich hinter sich lassen wollen. Und Frank.
    Es war eindeutig ein Verstoß gegen alle Gesetze. Gegen die geschriebenen und die ungeschriebenen. Pärchen wurden zwar geduldet, aber es war ausdrücklich verboten, innerhalb der WG in eine bestehende Beziehung einzubrechen. So hatten sie es verabredet. Und so musste es von jedem Mitglied, das aufgenommen werden wollte, akzeptiert werden.
    Susanne wäre diese Regel herzlich egal gewesen, wenn andere betroffen gewesen wären. Und sie hätte es vielleicht verkraftet, wenn es nicht Petra gewesen wäre. Ausgerechnet Petra. Ihre Freundin hatte offensichtlich nichts dabei gefunden, mit Frank zu vögeln. Und nicht nur
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