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Eiskalter Sommer

Eiskalter Sommer

Titel: Eiskalter Sommer
Autoren: Wolf S. Dietrich
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    Er hätte ihn schon früher umbringen können.
    Doch damit hätte er die Zeit des Hochgefühls verkürzt, das ihn seit Wochen begleitete. Es wurde aus eben diesem Abwarten gespeist, das er sich und seinem Opfer gönnte. Das Bewusstsein, den tödlichen Akt jederzeit vollziehen zu können, verschaffte ihm ein Gefühl tiefer Befriedigung. Aber dieser Reiz ließ nach. Und darum wollte er endlich jenes noch unbekannte Gefühl der Macht und Genugtuung kosten, ihn durch seine Hand sterben zu sehen.

    An seinem letzten Tag erwachte Evers früher als sonst.
    Er schlug die Augen auf, schloss sie aber wegen der Helligkeit sofort wieder. Einige Atemzüge später versuchte er es erneut. Mit leicht zusammengekniffenen Lidern hob er den Kopf, um die Uhrzeit abzulesen. Was die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster der Dachgeschosswohnung ankündigten, bestätigten die Zeiger des Weckers: Nur noch eine Stunde bis zum Aufstehen. Und er hatte gerade so schön geträumt. Sein Kopf sank zurück. Wie gern wäre er zu seinem Traum zurückgekehrt! Zu dieser Frau, ihrer leidenschaftlichen Hingabe und Ekstase. Sie war sehr jung, sie hatte ein Gesicht und einen Namen. Stefanie. Doch die Bilder ließen sich ebenso wenig wieder heraufbeschwören wie die Zuneigung der jungen Frau zurückzugewinnen war. Ein bitteres Gefühl war alles, was ihm blieb. Und eine Erektion. Zunehmender Druck der Blase ließ ihn kapitulieren.
    Er warf das Laken von sich, unter dem er gelegen hatte, eine Decke wäre zu warm gewesen, und bemerkte die Schweißflecken im Stoff. Auch seine Haut war feucht. Die Hitze war auch über Nacht nicht aus den Räumen gewichen, obwohl er am Abend sämtliche Fenster geöffnet hatte. Seit Tagen ging das nun schon so. Ganz Deutschland stöhnte unter der Hitzewelle, selbst an der Nordseeküste wurde tagsüber die Dreißig-Grad-Marke überschritten. Noch nie war Evers so froh gewesen, einen Arbeitsplatz zu haben, an dem er sich bei Bedarf abkühlen konnte. Nur die Wohnung wurde von Tag zu Tag wärmer.
    Er rollte aus dem Bett und bewegte sich steifbeinig zum Bad. Auf dem Rückweg zog er die Vorhänge auf der Sonnenseite zu und nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank mit. Während er trank, entschloss er sich, nicht wieder ins Bett zurückzukehren. Schlafen würde er doch nicht mehr können, vielleicht sollte er die Zeit nutzen, um die Wohnung aufzuräumen. Sie hatte es nötig. Überall lagen Kleidungstücke herum, und auf dem Balkon standen noch die leeren Bierflaschen vom Vorabend. Ein überfüllter Aschenbecher schrie nach Entleerung.
    Ohne Frau bestand das Leben nach Feierabend nur noch aus Essen, Trinken, Rauchen. Ein ziemlich beschissenes Leben.
    Automatisch schaltete Evers das Radio ein. Bremen eins spielte Abba. Halblaut sang er mit, während er seine Wohnung in Ordnung brachte. „Waterloo – I was defeated, you won the war. Waterloo – promise to love you for ever more …” Das musste 1974 gewesen sein. Der Beginn seiner heißen Zeit. Bei „Waterloo“ war er zum ersten Mal einem Mädchen nähergekommen. Andrea Michalski. Ihren Namen würde er wohl bis zum Grab in Erinnerung behalten. Sie war etwas älter gewesen. Ein Jahr oder zwei. Nur ein paar Tage hatte die Affäre gedauert. Aber außer heftiger Knutscherei und ausgiebigem Fummeln war nichts passiert. Er hatte sich natürlich mehr erhofft, aber sie hatte ihn schließlich sitzenlassen. Wegen eines älteren Jungen.
    Ein Wort des Nachrichtensprechers unterbrach seine Erinnerungen. Der Name seiner Firma war gefallen. Evers stürzte zum Radio und drehte die Lautstärke höher.
    „... teilte ein Sprecher der Banken in einer gestern Abend per E-Mail verbreiteten Presseerklärung mit, dass die Fischverarbeitung eingestellt werden soll, weil sie nicht mehr rentabel sei. Der Unternehmensteil Tiefkühl-Logistik werde jedoch unter dem neuen Namen CuxFrost weitergeführt. Diese Sparte sei europaweit gut eingeführt und bewege sich mit ihren Umsätzen im Spitzenfeld der Branche. Die konventionelle Herstellung von Fischprodukten dagegen habe in Cuxhaven keine Zukunft, weil die Arbeitskosten zu hoch seien. Zur Zukunft der betroffenen Arbeitnehmer machte der Sprecher keine Angaben. Es sei Sache der Unternehmensleitung und des Betriebsrats, eine sozialverträgliche Lösung zu finden.“
    Achtlos ließ Evers fallen, was er in den Händen hielt. Sie haben uns verarscht. Die Verhandlungen, Überzeugungsarbeit bei den Kollegen, nächtliche Sitzungen, unzählige Gespräche – alles
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