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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Bürovormittag seine bleichen Notizen und kalten Rechnungen hinterlassen würde.
    „Was ist los? Was. ist bei euch los? Gibt es in der Direktion eine lebende Seele?“ fragte eine bekannte Stimme, wütend vor Ungeduld und heiser vor unterdrücktem Zorn. ‘„Wie steht’s heut morgen mit dem Verkehr? Man verlangt von mir Auskünfte, und ich kann vom eigenen Ressort keine bekommen!“
    „Wir haben Schwierigkeiten. Unvorhergesehene Schwierigkeiten“, antwortete er, sich an das erinnernd, was er am Morgen im Wirtshaus beim Wochenmarkt gehört hatte. „Wir werden alles Notwendige unternehmen. Alles, was in unserer Macht steht. Was wollen Sie“, sagte er, sich entschuldigend: „Der Schnee, der Schnee!“
    „Der Schnee?“ fragte trocken der am anderen Ende des Drahtes, als habe er ihn bisher auf den Straßen nicht bemerkt und höre jetzt zum erstenmal davon. „Ich hoffe, Sie werden ihn bald von Straßen und Schienen entfernt haben.“ Das war wie ein Befehl gesagt, das Gespräch ging jäh zu Ende, der Hörer fiel auf die Gabel. Der Direktor bekam kaum Zeit, für den Vorsteher, der eben eintrat, das Gesicht mit kalter, dienstlicher Miene zu beziehen.
    „Nicht ein Zug ist heut morgen in der Stadt angekommen?“
    „Der Schnee! Wir haben alles getan, was möglich war, bisher jedoch ohne Erfolg.“
    „So also?“ Er spürte, wie sein Zwerchfall sich blähte. „Das heißt also, der Schnee? Auch mir hat er den Wagen verschüttet, und ich bin doch gekommen, wie Sie sehen. (,Leider’, dachte der Vorsteher, aber er war klug genug, es nicht zu sagen.) Aber waren Sie etwa beim Bahnhof?“ fragte der Direktor auf eine Weise, die aus ihm wieder das machte, was er war, und mit der er den Vorsteher dauernd überraschte und in Verlegenheit brachte und ihm kein Wort der Verteidigung überließ. „Bei allem Schnee hab ich mich heut morgen in die Direktion aufgemacht, und von hier bis zum Bahnhof ist es nicht der fünfte Teil des Weges wie von meinem Haus hierher. Konnte nicht jemand hingehn, um sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen, was zu tun ist? Hören Sie, mit solchen Arbeitsmethoden muß endlich Schluß sein. Und noch etwas“ – er zeigte zum Fenster hinaus –: „Wie Sie sehen, ist eine kalte, eisige Zeit angebrochen, da können wir uns weder auf alte Verdienste berufen noch auf kameradschaftliche Rücksichtnahme rechnen. Jetzt ist jeder nur noch so viel wert, wieviel er in der Gesellschaft und für die Gesellschaft bedeutet und vorstellt.“
    Der Direktor verstummte und erhob sich ein wenig von seinem Sitz, was das Zeichen war, daß das Gespräch beendet sei, und der Vorsteher eilte an der verwunderten Sekretärin vorbei und schrie nur zornig: „Die Abteilungsleiter! Sofort!“ Und schlug die Tür zu.
    Zehn Minuten später beschimpften die Abteilungsleiter die Referenten. Die Telefone hörten nicht auf, den Bahnhof anzuklingeln und Anordnungen zu wiederholen. Kuriere gingen und kamen wieder, aber alles das half wenig, und genau irgendwann gegen Mittag, als es in den Büros schon unerträglich langweilig war und alle schon heimlich nach den Mänteln schielten, fiel einem Angestellten der Vorschlag ein, man sollte den Eisenbahnern helfen. „Brechen wir alle auf und zeigen wir, was wir können!“! sagte er. Sie einigten sich, eine Delegation zum Direktor zu schicken – der sich mit seinem umnebelten Kopf nur mühsam erheben konnte, als die Sekretärin eintrat, um ihm das zu melden. „Uff, sie werden mir hier alles schmutzig machen!“ sagte er, sich rekelnd, aber ein wenig später, als alle ins Zimmer traten, pflanzte er sich mit gespreizten Beinen vor ihnen auf, als befehlige er ein Bataillon zum Sturm, streckte den Arm aus und schrie: „Auf den Schnee, Genossen! Auf den Schnee!“ Im Nu leerten sich die Zimmer. Die Tische blieben unverschlossen, die Bücher aufgeklappt, die Schreibmaschinen unbedeckt zurück. Es war nicht einmal Zeit, die Türen ordentlich zuzumachen. Alles stürzte sich die Treppen hinab. Der Direktor kam gerade noch dazu, der Sekretärin aufzutragen, sie solle die Presse verständigen, damit Berichterstatter und Fotoreporter zum Bahnhof geschickt würden. Dann trat auch er vor das Gebäude, wo seine Beamten schon auf ihn warteten.
    Und hier drückte er abermals die Brust heraus. Und schrie noch einmal: „Vorwärts! Auf den Schnee, Genossen!“ Dann hüllte er sich in seinen Mantel wie in einen Soldatenrock und setzte sich in den Wagen, der hier schon auf ihn wartete – die Straße zum
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