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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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anderen konnte er sich auch nur erinnern. Und dennoch fragte er: „Sind wir nicht vereist? Nicht überflüssig?“
    „Nein, Stole. Und wir werden es auch nicht.“
    „Aber wo sind wir dann? Sie haben uns doch wohl nicht beide aufgefressen?“
    „Nein, noch haben sie uns nicht aufgefressen. Wir sind bei mir. Im Iglo. In meinem Iglo, Stole.“
    „Im Iglo? Was sagtest du, Tomić, wo wir sind?“
    „In einem Eskimohaus. In deinem Wagen, den das Eis zugedeckt hat. Hörst du? Hörst du sie draußen heulen, scharren und rennen?“
    Tatsächlich, auch hier unten unter dem Eisdach hörte man, wie ihre Pfoten im Lauf über das Eis kratzten und wie sie in einem fort vorbeizogen, wie ein strömender Fluß. Irgendwo über den Köpfen der beiden vermischten sich die Aufschreie und Heultöne, mit denen die Rudel sich gegenseitig den Sieg zuriefen und das bevorstehende Siegesmahl ankündigten.
    „Ich hatte, erinnerst du dich, eine schlechte, feuchte Wohnung. Eine vollkommen schlechte Kellerwohnung. Aber auch aus ihr hat das Eis mich vertrieben. Ich erinnerte mich deines verschütteten Wagens, grub mich zu ihm durch und sah, daß es drinnen, unter dem Schnee, viel wärmer und angenehmer war als draußen. Die Eskimos hatten recht! Und dieser Iglo hier ist sogar mit Leder gepolstert, hat ein Dach, Tür und Fenster. Nur die Beleuchtung ist kaputt. Hast du dich etwas erholt? Ist dir jetzt besser?“
    „Mir ist besser. Hier werden sie uns hoffentlich nicht finden?“
    „Die Wölfe? Nein, hier herein können sie nicht.“
    „Die Boten. Mich haben sie heut morgen schon gesucht. Als überflüssig und unbrauchbar.“
    „Nein, auch die finden uns hier nicht. Hörst du, was da droben los ist? Morgen wird es auch keine Boten mehr geben.“
    „Und heut nacht? Werden wir zwei hier nicht erfrieren über Nacht?“
    „Nein – wir werden einer den anderen wärmen. Mit dem eigenen Hauch. Tief, aus voller Brust und vollem Herzen. Komm näher, daß ich dich umarme.“
    Und so machten sie’s. Sie zogen einer den anderen an sich, umarmten sich, schmiegten sich aneinander, hauchten sich gegenseitig in die erstarrten Hände. Und der Freund fühlte, wie vom Hauch des Freundes seine Finger wärmer wurden und wie ihm davon überall, überall wärmer wurde. Wärmer und heller ums Herz. Draußen, über ihren Köpfen, tobte ein Sturm. Der Nordwind pfiff und wirbelte den Schnee. Mit diesem Pfeifen vermischten sich die wütenden Schreie der Wölfe, die da oben, über den Köpfen der Freunde, ihren blutigen, bacchanalischen Kolo tanzten. Der Polarfrost zog an; es knackten davon und erloschen selbst die Sterne am Himmel, aber die beiden da unten in ihrem Versteck, umarmt, Brust an Brust, Kopf an Kopf, bliesen sich gegenseitig in die Hände und, noch zitternd vor Angst und Kälte, wärmte und schützte einer den anderen vor Frost und Eis.

 
V
     
    Mais ou sont les neiges d’antan?
    Francois Villon
     
    Ein neuer Windstoß schlug gegen die Scheiben. Danach noch einer. Vor seinem Druck gaben die Fensterflügel nach. Sie klappten auseinander, bevor es den beiden gelang, sie festzuhalten. Kalter Wind brach in das Zimmer ein und erfüllte es im Nu mit riesigen Schneeflocken.
    Es waren das die Papierblätter und Akten, die der Wind hochgewirbelt hatte und mit denen er nun die beiden von der Decke herunter zuschüttete wie mit Schnee. Beide rannten zu gleicher Zeit zum Fenster, drückten überrascht die Flügel zu und stemmten sich mit ihren Leibern dagegen. Als das Zimmer sich beruhigt hatte, begannen sie die Blätter aufzulesen, suchten sie aus den Ecken zusammen, holten sie von den Möbeln herunter und hoben sie, auf den Knien rutschend, vom Fußboden auf. Sie stießen fast mit den Köpfen zusammen und kamen einander so nahe, daß ihr warmer Atem sich berührte. Tomić legte seine gesammelten Blätter auf den Tisch und wandte sich zum Gehen.
    „Aber du kannst doch nicht so“, sagte der Generaldirektor, faßte ihn bei der Schulter und führte ihn zum Fauteuil zurück. „Setz dich“, sagte er. „Wart ein bißchen. Du wirst doch nicht bei dem schlechten Wetter …“
    „Das geht vorbei. Es kann nicht lang dauern. Und ich hab dich sowieso schon zu lang aufgehalten. Du hast ja eine Sitzung.“
    „Ach!“ winkte der andere ab. „Nicht so wichtig. Sitzungen gibt’s sowieso täglich ein paar. Und wir – wie lang ist’s her, daß wir uns nicht mehr richtig gesehn und ausgesprochen haben, wie es sich gehört? Zehn Jahre bestimmt.“
    Sie nahmen in den
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