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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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flogen dicke Schneeflocken über die dunkelgrauen Gesichter der Häuser, schwer und schmutzig, und gleich darauf kam Wind auf und trieb feinen Schnee im Wirbel vor sich her. Die Menschen, schwarz und naß, liefen, um sich in Sicherheit zu bringen. Und schon war alles winterlich grau, kalt und unangenehm. Benommen schauten die beiden eine Weile zu, was draußen geschah, und vergaßen das Gespräch, das sie vor kurzem geführt hatten. Ein Windstoß fuhr gegen das Fenster. Als habe er es durchschlagen und sei in das Zimmer eingedrungen, schwankten die’ Gardinen und die Leuchter an der Decke. Die beiden zuckten im gleichen Augenblick zusammen, wichen vom Fenster und zogen sich tiefer in das Zimmer zurück, als fürchteten sie, das Fensterglas könnte sich über sie ergießen, der Wind sie von draußen mit seiner kalten Hand packen, an der Kehle würgen und sie mit sich ziehen irgendwohin ins Dunkle, ins Kalte und ins Unbekannte.
    „Ich hab jetzt eine Konferenz, Tomić“, sagte der Generaldirektor kalt. „Ich kann dich nicht länger aufhalten.“
    Und so, sich absondernd und sich zurückkämpfend hinter die kalte, undurchdringliche Wand seiner Amtlichkeit, seiner spröden Stimme und seiner eisig funkelnden Brillengläser, sah er zu, wie der zerstörte Mensch sich auf der Stelle umdrehte und, den Kopf gesenkt, gebeugt unter sich schauend, irgendwie gespensterhaft unwirklich und fern, lautlos, Schritt für Schritt, zur Tür dort ging …

 
II
     
    Schnee fällt nicht, um die Erde zu ersticken, sondern um die Fährte aller Bestien sichtbar zu machen.
    Serbisches Sprichwort
     
     
     
    Bis jetzt war der Winter verhältnismäßig mild gewesen. Gemeldet hatte er sich allerdings früh; Anfang November hatte Reif die Dächer weiß gefärbt, aber die Temperatur war nicht unter Null gesunken. Der erste Schnee war erst irgendwann im Januar gefallen und hatte sich nicht lang gehalten. Dann schneite es noch zweimal, aber wieder hielt es nicht. Leichte Fröste wechselten mit Tauwetter ab, und die Leute begannen in ihren Gesprächen vom Wetter und dessen Launen zu behaupten, das Klima habe sich geändert: es sei milder geworden, und Frühling und Herbst hätten sich einander genähert.
    Der Schnee Ende März kam daher überraschend, niemand hatte ihn erwartet, er war unerwünscht wie ein nachgeborenes Kind alternder Eltern. Der Tag hatte mit einem buntscheckigen Himmel begonnen, nur ein klein wenig trüber als die zwei, drei vorhergegangenen, doch die Wolken, statt sich zu verschleißen und dünner zu werden, waren irgendwann gegen Mittag plötzlich schwer geworden, der Himmel trübte ein und ließ sich herab bis auf die Hausdächer, und es sah aus, als werde sich aus ihm Regen ergießen. Ungefähr um elf begannen statt Tropfen schüttere Flocken anzurücken, eine nach der anderen; langsam lösten sie sich vom Gewölbe und hatten es nicht im geringsten eilig, auf die Erde niederzukommen. Jäh wurde es kalt; den Flocken auf dem Fuß folgte die Koschäwa {1} , und der Schnee drehte nach Norden. Zuerst schmolz er, doch schnell stäubte er die Straßen ein, und gegen Abend bedeckte er sie bereits fußhoch.
    Kein Mensch hatte seine Freude daran. Einzig die Kastanienröster an den Straßenecken riefen jetzt mit stärkerer Stimme: „Maronen heiß!“, und die Holzhacker und Straßenreiniger, Saisonarbeiter aus der Provinz, äugten aus ihren Unterschlüpfen und sahen’s mit gemischten Gefühlen: der Schnee sicherte ihnen weiterhin Arbeit in der Stadt, aber er verzögerte auch die Heimkehr in ihre Dörfer. Der diensthabende Meteorologe schaute zornig zum Fenster hinaus und trug in seine Kladde ein: „Kurzfristige Wetterverschlechterung mit Schnee in den Nachmittagsstunden“, und für sich fügte er leise hinzu: „Da hat man’s – jetzt werden sie sich wieder lustig machen über uns.“ Zwei Rentner, aus dem Kaffeehaus kommend, streckten die Hände aus, um zu sehen, was da herabfiel, tasteten die Flocken ab und spannten die Regenschirme auf. „Alles ist durcheinandergekommen! Man weiß nicht einmal mehr, wann Schneezeit ist. Und der Schnee selbst ist dünn und schmilzt dahin wie unsere Renten“, sagten sie und gingen die Straße hinab und zogen ihre Füße schwer und tapsig durch den ersten Matsch. „Es gibt keinen Frühling!“ seufzte das junge Paar im Park und wußte nicht wohin, und auf dem Gesicht des Mädchens zerging eine Flocke und rann herab wie eine Träne. Der Diensthabende im Dezernat für die Sauberhaltung der Stadt
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