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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Sofa saß, aber er spürte, daß seine Stimme zitterte und seine Erregung verriet und daß die beiden merkten, daß er sie belog. Und schon zogen sie, für alle Fälle, die Tür um ein paar weitere Millimeter zu, und nun sah er nur noch ihre Augen in der Dunkelheit blinken. Langsam schob er den rechten, den gesunden Fuß vor und gestand:
    „Ich muß irgendwo übernachten. Nach Hause kann ich nicht mehr. Die haben mir heute eine Vorladung hinterlassen. Sie haben mich gesucht. Ich wollte mich nur für diese eine Nacht bei irgendeinem Freund in Sicherheit bringen. Bis ich mich irgendwie zurechtgefunden hab.“
    Die Tür quietschte nur und verengte sich abermals um ein paar Millimeter. Und hinter dem Rücken von Frau Krekić ertönte ein heiseres „So?“
    „Glauben Sie mir“, sagte er mit bittendem, beschwörendem Ton und bewegte sich vorwärts, auf die Tür zu, „die können nichts gegen mich haben. Immerhin hab ich mich in der Stellung eines Generaldirektors befunden; also ist es unmöglich, daß ich so plötzlich, so über Nacht vollkommen unbrauchbar und überflüssig werde. Alles das, ich bin überzeugt, ist nur irgendein Mißverständnis. Ich muß mich nur für diese Nacht irgendwo in Sicherheit bringen, morgen wird sich dann alles aufklären und regeln.“
    Er wollte eintreten. Er wollte auf jeden Fall eintreten. Er mußte eintreten – das hier war die letzte Gelegenheit. Während er sprach, näherte er sich Millimeter um Millimeter, und wie unabsichtlich streckte er den Stock aus, um ihn im günstigen Augenblick zwischen Tür und Angel zu schieben. Aber noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, schloß die Tür sich vollständig. Ohne vorausgegangene Warnung. Eisig und stumm breitete sie sich vor ihm aus.
    Ein paarmal schlug er mit aller Kraft dagegen. Aber auch jetzt gab sie keine Antwort. Sie gab unter den Schlägen keinen Ton von sich – als liege keinerlei Hohlraum mehr dahinter. Als war der gesamte Raum hinter der Tür schon mit Eis ausgefüllt.
    „Auch euch werden sie vereisen!“ rief er mit der Stimme eines Unheilverkünders. „Auch ihr seid überflüssig. Unbrauchbar. Und das seid ihr immer gewesen. Von Anfang an. Wegen euch ist die Eiszeit gekommen – damit auch ihr euer wahres Gesicht zeigt. Damit alle sich davon überzeugen, wie sehr eure Seelen und Herzen vereist sind. Aber: Auch an euch wird die Reihe kommen. Schon morgen werden sie auch zu euch einen Boten schicken, der euch auf das Messegelände bestellt. Ich werde heut nacht auf der Straße erfrieren, und bis morgen früh werden die Wölfe mich zerrissen haben. Aber auch ihr werdet nicht viel länger leben! Was nutzt es euch, daß ihr vielleicht einige Stunden länger leben werdet als ich? Was nutzt euch das?!“
    Er entfernte sich, humpelnd, torkelnd. Durch den verschneiten früheren Garten, über die mit Eis bedeckten Blumenbeete und Rabatten. Aber die Krekićs konnten ihn auch hinter der verschlossenen Tür genau hören. Zusammengepfercht standen sie in dem kleinen Raum zwischen der Tür und der Eiswand, die fast schon den letzten Meter des letzten Zimmers ausfüllte und sie auf den Hauflur verbannte. Und Krekić brachte es nicht über sich, dem anderen nicht durch die geschlossene Tür nachzuschreien: „Ein paar Stunden länger! Das ist nicht einmal wenig. Und auch nicht bedeutungslos. Schließlich – wenn wir die Dinge so betrachten, war es uns egal, ob ein paar Stunden, ein paar Monate oder ein paar Jahre länger. Hauptsache: wir alle trachten je länger zu leben.“
    Der Mann, der sich hinkend entfernte, winkte nur ab. Ihm war nicht einmal mehr an diesen einigen Stunden gelegen. Er hatte nicht mehr den Willen zu kämpfen. Das Geheul war schon aus nächster Nähe zu hören, der Mond ging blaßgelb, riesig groß und gedunsen auf, wie das Gesicht eines Ertrunkenen, und in seinem Licht war deutlich zu sehen, wie die schlanken, flinken Wölfe, den Schatten unerlöster Seelen gleich, auf und ab tanzten, näherkamen und den Mann bereits umspielten.
     
    Die ersten Schreie hatte man schon vor langem vernommen, in hellen Nächten, wenn der Mond aufgegangen und das Getöse der Stadt verstummt war. Die Bewohner der Peripherie spitzten die Ohren und hielten lauschend den Schritt an, wenn sie aus dem Kaffeehaus heimgingen oder wenn sie frühmorgens, vor Sonnenaufgang, auf den Hof traten, um sich zu waschen und für die Arbeit fertigzumachen.
    Anfangs war es ein kaum hörbares, entferntes Heulen gewesen. Etwas wie der Ruf des
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