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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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überfluteten den ganzen Platz, und auf die Schreie des Führers antworteten die anderen mit ihrem Geheul. Eine Kundgebung wurde gemacht, der Sieger hielt Gericht über die belagerte, unterjochte Stadt, und die wenigen nicht vereisten Menschen starben in ihren Schlupfwinkeln vor Angst.
     
    Er wußte nicht mehr wohin. Er hatte nicht mehr wohin, zu wem zu gehen. Es war spät geworden, zu spät, um zu seinem Haus zurückzukehren, die Vorladung vom Türgriff zu nehmen, freiwillig zum Messegelände zu gehen, sich vorzustellen und zu sagen: „Ich bin gekommen. Bitte sehr – macht mit mir, was ihr wollt. Ich weiß, ich bin unbrauchbar und überflüssig, jetzt und für alle Zeiten und in alle Ewigkeit!“ Nein, jetzt würde er dort niemanden antreffen – und bei einer solchen Sache muß man in Reih und Glied warten und sich an die Arbeitszeit halten –, und es war auch schwer zu glauben, daß er überhaupt bis dorthin kommen würde: Um seine Beine, sich fast an ihm reibend, strichen graue Schatten, und in der Dunkelheit blitzten weiße Hauer auf.
    Er blieb stehn – er wußte nicht, nach welcher Seite. Jemand rief ihn leise an, tuschelte kaum hörbar seinen Namen, und er hätte sich nicht einmal umgedreht – es war ihm, als habe er sich da selbst zum letztenmal erwähnt –, wenn nicht jemandes Hand seine Schulter berührt hätte. Jemandes leichte, unwirkliche Finger griffen nach ihm. „In Ordnung“, sagte er, „ich bin bereit. Ich werd mich nicht zur Wehr setzen“, und er drehte sich langsam um, und der Unbekannte trat zurück und winkte ihm mit dünner Hand wie mit einer Nebelschwade. „Hierher! Hierher!“ rief er ihm zu. „Schnell, schnell!“ Und verschwand irgendwo in Finsternis und Schnee, wie darin untergetaucht. „Hierher, Stole! Hierher! Mach schnell, Pledasch!“ war von dorther noch zu hören, wie ein Raunen aus einem Grab. Aus Plećaschs eigenem, eisigem Grab.
    Aus der Stadt kam ein schrecklicher Schrei. Ein langer Heulton, wie er ihn noch nicht gehört hatte; der hielt an, wand sich, schwoll an und ab und drehte sich um sich selbst wie der Klang einer metallenen Sirene. Anderes Gebrüll antwortete von allen Seiten, und ein dicker Strom grauer Leiber floß nur so an den Beinen des Mannes vorbei wie ein pralles Gewässer.
    Er taumelte, als habe der Schrei ihn mitten in die Brust getroffen. Etwas schnitt ihn abscheulich ins Bein, riß ihm ein Stück Hosenbein und ein Stück Fleisch ab. Auch er schrie auf verzweifelt, wölfisch, torkelte abermals, und wie er in diesen grauen Leiberstrom stürzte, ergab er sich ihm und erwartete nun schon ohne Bangen einen neuen Biß in die Kehle. „In Ordnung!“ sprach er. „Nehmt mich. Nehmt wenigstens ihr mich. Damit ich wenigstens jemandem von Nutzen bin.“ Und er fügte sich ihnen und spürte in der Nase bereits den wilden, herben und säuerlichen Geruch von Wolfsfell.
    „Bück dich! Paß auf den Kopf auf!“ schrie ihm jemand ins Ohr, und genau in diesem Augenblick schlug seine Stirn mit aller Kraft gegen etwas Dunkles, Schwarzes und Hartes. Da ist’s, dachte er; da ist’s also; das ist die Finsternis, die uns mitnimmt. Und schloß die Augen.
    Aber es war es nicht. Anscheinend war es das noch nicht. Er lag. Er lag auf etwas Weichem und Warmem, auf etwas Intimem und Angenehmem. Ach, ist das die Grube? Oder die Wolke, auf der die Seelen in der anderen Welt sich wiegen? Aber nein, das war es nicht, denn das, worauf er lag, flüsterte ihm mit sanfter, beruhigender Stimme zu: „Fürchte dich nicht. Ich bin es, Plećasch!“ Eine weiche, warme Hand strich langsam über sein Gesicht und nestelte an seinem schmerzenden, zerbissenen Bein herum.
    „Uff, die haben dich abscheulich zugerichtet!“ murmelte eine tiefe, warme menschliche Stimme, und man hörte, wie der Mensch irgendwelche Tücher zerriß, mit denen er ihm das Bein zu verbinden begann. „Ach, diese Bestien, diese tollgewordenen Eiszeitwölfe!“
    „Wer bist du?“ fragte Plećasch, nachdem er zu sich gekommen war. Vergebens versuchte er, die Dunkelheit um sich her zu durchdringen. Der Mann hatte ihn beim Namen genannt: er mußte ihn kennen.
    „Tomić!“ sagte er. „Pavel Tomić.“
    Er wunderte sich nicht. Nicht im geringsten. Es erschien ihm vollkommen natürlich, daß ausgerechnet Tomić sich hier eingefunden hatte, bei ihm. Denn schließlich waren sie alte Freunde, und wer hätte es sonst auch sein können. Wer sonst hätte ihn auffangen und seine Wunden pflegen können? Nein – an keinen
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