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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Krankheiten geben!“ Und: „Gut ist das – der Boden wird mehr Früchte tragen.“ Sie begrüßten sich laut, riefen einander über die Straße zu, und selbst ältere, ernstere Leute, Beamte hatten Mühe, sich zurückzuhalten und nicht den erstbesten Entgegenkommenden mit einem Schneeball zu empfangen. Einige schöpften aber tatsächlich etwas Schnee von der Oberfläche ab, betrachteten ihn und tasteten ihn ab. Weiß und kalt, wie jeder Schnee, hatte er dennoch irgendeinen ungewöhnlichen und angenehmen Geruch, nach Frische und Fichtennadeln, als war er direkt aus den Bergen angekommen, ohne die verrauchte Atmosphäre der Stadt zu passieren. Die Flocken waren dick und fest, und die Handflächen wurden davon abwechselnd rot und weiß, als hätten sie Brennesseln berührt.
    Auf den Straßen, besonders an der Peripherie, war es noch still und leer. Weder Last- noch Personenwagen; versteht sich, auch keine Autobusse, Trolleybusse und Straßenbahnen, wie man sich das ja auch gut vorstellen konnte. Wer zur rechten Zeit ankommen wollte, mußte fest ausschreiten. Zur Stadtmitte hin waren die Pfade breiter und schon besser festgetreten, aber doch ungenügend, um die Menge der Angestellten durchzulassen, die aus allen Richtungen in die Büros eilten. Auf dem weißen Schnee zeichnete sich eine endlose Prozession von Menschen in dunklen Mänteln und Hüten ab; die Spur des schwarzen Blutes der Stadt, das in dessen Herz zurückfloß und langsam zuerst die Ungeduld, danach auch die Mißstimmung aus sich absonderte. Im Gedränge trat jemand jemandem schnell mal auf die Füße und wollte ihn überholen, stieß ihn zur Seite und steckte ihn in den Schnee. Streit flammte auf, die nächsten Mitwanderer mischten sich ein, sammelten sich zuhauf und schrien alle zusammen weiter, ohne noch zu wissen, auf wen und warum.
    Erst im Zentrum begegneten sie der ersten Räumkolonne unter den grauen Kapuzen, ähnlich wie Rekruten sie tragen. „Versteht sich“, sagte einer der morgendlichen Passanten, „sie fangen wieder einmal von hier an.“ – „Was wollen Sie denn“, meldete sich ein anderer, „sie werden doch nicht an der Peripherie anfangen. So erwischen wir wenigstens alle ein Stückchen Sauberkeit.“ Und dann widmeten die zwei sich im Weitergehn dem morgendlichen Räsonieren, das wie eine Tasse Mokka und das Recken der Glieder nach tiefem Schlaf den Mißmut vertreibt, das abgestorbene Herz in Bewegung bringt und wie ein Gläschen Doppeltgebrannter den Leib erwärmt. „Es genügt, daß jemand niest, und die elektrische Zentrale bleibt stehn, und es gibt keinen Strom; daß jemand die Spülung im WC etwas stärker zieht, und in der Stadt verschwindet das Wasser; und ein kurzer Märzschnee ist imstande, wie man sieht, den gesamten Verkehr lahmzulegen.“
    Eingezwängt in einen Haufen, bliesen sie sich die Worte gegenseitig ins Gesicht. „Und was machen die in der Generaldirektion? Ständig empfehlen sie uns: siebenkommadrei, zwanzigkommasechs, achtzigkommaneunzig … Da, nun sollen sie doch mal mit Statistiken die Schienen und Fahrbahnen frei machen“, sagte der zweite zum ersten, der sofort hinzufügte: „Die! Niemals werden die – wenn der Schnee nicht von selbst verschwindet. Heut nacht bekamen sie nicht einmal die Haustür auf; die ganze Nachbarschaft wurde alarmiert. Aus dem Schlaf holten sie uns, damit wir sie befreien.“ Er wollte noch mehr sagen, etwas zur Verteidigung der Statistik, aber sein Gesprächspartner blieb stehn und sah ihn uninteressiert an.
    „Entschuldigen Sie – ich hierher …“ sagte er.
    Sie standen vor einem gewaltigen Gebäude, dessen Tor schwarz war wie der Eingang zu einem Krematorium.
    „Hier arbeiten Sie?“ Am Tor hingen mehrere schwarze Tafeln. „In welchem Amt, wenn ich fragen darf?“
    „In der Stadtverwaltung. Nedić ist mein Name, Chef des Amtes für die Reinhaltung der Stadt“, sagte der andere und bewegte sich auf sein Tor zu.
    „Ach wirklich? Verzeihung, es hat sich nicht auf Sie bezogen. Ich hab’s nicht persönlich gemeint! Tomić – vom Statistischen Amt!“ Er verneigte sich und entzog sich mit Mühe dem Strom, der auch ihn in die gewaltige schwarze Öffnung ziehen wollte, in die sich, wie in einen Trichter, der Reigen der Menschen ergoß.
    Dann durchschritt auch er das Tor zu seinem Amt, als schlüpfe er in einen Grabhügel. Die Uhr zeigte acht; er hatte sich um eine ganze Stunde verspätet, mehr als vierzehnkommazwei Prozent der Arbeitszeit. Im Vorbeigehn sah er, wie der
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