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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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zurückkommen und ans Fenster gehen sah. – „Nichts, etwas hat sich vor die Tür gelegt“, beruhigte die Hausfrau sie. – „Uh! Und was hat sich vor die Tür gelegt?“ forschte sie, während der Hausherr und seine Gäste in Eile die Gardinen zurückschlugen und die inneren Fensterflügel öffneten. „Wenn es nur kein Mensch ist. Passen Sie auf, daß es nur kein Betrunkener oder irgendein Tier ist!“
    Sie öffneten die äußeren Flügel, und alle Frauen schrien erschrocken auf. Als war etwas ins Zimmer geflogen, hätte mit großen schwarzen Flügeln geschlagen, die Leuchter an der Decke geschaukelt, die Gardinen gewirbelt, schnell mal in einem aufgeschlagenen Buch geblättert und sogar die Bilder an der Wand verrückt. Irgendwas strich über die Gesichter der Menschen; irgend jemand hauchte sie eisig an. Der Dichter wies mit dämonischem Lächeln und ausgestreckter Hand irgendwohin auf das Bord. Die hysterische Frau winselte auf und griff sich an die Kehle; das Herz wollte ihr herausspringen. „Was ist, um Gottes willen?“ schrie sie. „Sprecht doch!“ – Die Hausfrau gesellte sich ihr bei, auch sie schon von Sinnen: „Zumachen! Zumachen!“ Aber bei dem Wind, der ins Zimmer drückte, konnte man die Fenster nicht schließen, und als das endlich doch gelungen war, war der Winter bereits da, mitten unter ihnen, und alle erzitterten, von Schneetau benetzt, gewaschen und ernüchtert.
    „Schnee!“ sagte der Direktor mit bleichem Gesicht. „Er liegt bis unter die Fenster und hat die Tür verschüttet.“
    Sie sahen sich an. Der boshafte, finstere Dichter zeigte wieder in Richtung Bücherbord, und alle folgten mit den Blicken. Die Figurine der Eskimofrau leuchtete – sie allein von einem Bündel Licht erhellt, als sei sie aus glattem Eis gemeißelt und leuchte von innen mit einem geheimnisvollen und kalten phosphoreszierenden Glanz. Und das Gesicht der Figur schien dabei tierisch zu lächeln.
    „Wir sind verschüttet!“ winselte die hysterische Frau.
    „Abgeschnitten!“ raunte der Journalist. Alle sahen den Direktor an, der in der Mitte stand: „Was sollen wir jetzt tun?“
    Er aber spreizte die Beine, der Kräftige und Breitschultrige unter ihnen, in einem Mantel, der über den Schultern spannte, und kraftvoll, als kommandiere er einer Einheit, wandte er sich der Küchentür zu:
    „Fahrer und das übrige Personal! Und ihr hier alle! Schaufeln! Äxte! Alle mir nach! Zum Freischaufeln!“
    Schnee lag auf der Erde.
    Überall: auf Dächern und Bäumen, Straßen, Parks, Baustellen, Höfen und den Feldern um die Stadt. Er bedeckte die Zufahrtstraßen zur Stadt von Süden und Westen, die Gipfel der Berge in der Weite, die Flußufer und die Ebene auf der anderen Seite, soweit man schauen konnte. Weiß, zuversichtlich, weit ausgestreckt.
    Von seinem weißen Schimmer erwachten die Menschen früher als sonst, betrachteten die Zimmerdecke und sahen sie in einem anderen, veränderten Licht. Sie fürchteten, sie hätten den Aufbruch zur Arbeit verschlafen, erhoben sich schnell, schauten auf die Uhr, glaubten ihr nicht, dachten, sie sei irgendwann vor Morgen stehengeblieben, und erst als sie zum Fenster hinausschauten, begriffen sie, was geschehen war.
    Die als erste hinausgingen, fanden keinen Pfad vor den Häusern; es blieb ihnen nichts übrig, als bis über die Knöchel in die unberührte Schneemasse zu tauchen und sich selbst einen Weg zu bahnen. Nach den langen kalten Frühlingsregen, die auf die noch schwarzen, unbelaubten Äste und die schmutzigen Straßen gefallen waren, erwachte die Stadt jung und weiß, wie frisch getüncht. Über Nacht waren die Bäume aufgeblüht, noch vor dem Laub, die engen Gäßchen an der Peripherie waren jetzt sauber, und der Frost konnte nicht stark sein, kaum unter Null, also vergaßen die Menschen die Mühen und Unannehmlichkeiten, die der Wettersturz mit sich brachte, und gaben sich dem ersten, unmittelbaren, schönen Eindruck hin. Überraschend fühlten sie sich rüstig und gesund, sie wärmten sich von innen und bekamen rote Wangen, und da sie wußten, daß der Winter nun nicht mehr lange dauern konnte, gab es nicht wenige, die auch diesen Schnee von der heiteren Seite betrachteten, als kleine, angenehme Abwechslung und heitere Laune der unruhigen, unzuverlässigen Natur. Sie sagten: „Ein kalter, frischer Morgen!“, hauchten in die Hände und ließen, Luftballonen gleich, leichte, fröhliche Dampfwölkchen aus sich aufsteigen. „Gesund ist das. Es wird weniger
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