Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
Vom Netzwerk:
ausgebleichten Menschen. Des entfremdeten, unmenschenhaften Menschen.“
    Und beleidigt und zornig ging er auf seinen Platz zurück. Mit zusammengeklebten, versiegelten Lippen. Er nahm Platz, legte die Hände übereinander, und alle wußten, daß er nichts mehr sagen würde, so sehr sie ihn auch darum bitten mochten. Daß er den ganzen Rest des Abends über schweigen würde – und alle fühlten sich wegen irgend etwas vor ihm schuldig, und um ihm Genugtuung zu geben, sagten sie: „Wirklich herrlich!“ Einige gingen hin, um den Gegenstand auf dem Bord zu betrachten, aber der Dichter hatte für ihn anscheinend überhaupt kein Interesse mehr. Der Genosse Direktor drehte und wendete das Figürchen zwei-, dreimal hin und her, und er war sich nicht im reinen darüber, wodurch ein so winziger Gegenstand, kalt zwischen den Fingern liegend und offensichtlich zerbrechlich, häßlich und unangenehm dazu, derartig wichtig und majestätisch sein sollte. Er vermochte darin den befreiten, integralen Menschen, von dem der Dichter gesprochen hatte, nicht zu entdecken, und je länger er ihn zwischen den Fingern drehte, um so gewöhnlicher und häßlicher erschien er ihm. Die Figur blieb kalt, polarkalt, eskimokalt, und er stellte sie auf das Bord zurück. Aber er hütete sich zu widersprechen. Statt dessen sagte er: „Schön, wirklich schön. Woher haben Sie das? Aus einem Kommissionsgeschäft? Was haben Sie dafür bezahlt?“ Aber auch dies war unangebracht. Die Hausfrau war beleidigt:
    „Aber nein!“ sagte sie empört. „So was kann man unmöglich hier kaufen. Es stammt vom nördlichen Polarkreis; das Geschenk eines kanadischen Diplomaten.“
    „Tatsächlich – sie ist kalt und läßt sich nicht zwischen den Händen erwärmen. Wie aus Eis – wie soeben aus dem Norden angeschleppt.“
    Der Dichter hüllte sich weiterhin in sein düsteres, geheimnisvolles Schweigen, anzusehen wie ein Unglücksprophet, und die kleine Figurine, eine Mischung von Talisman und Kultgegenstand, schien jäh die ganze Atmosphäre im Raum abgekühlt zu haben. Die Stimmung ließ sich nicht zurückrufen, die Gespräche konnten sich nicht wieder erhitzen. Es war kalt geworden, und abermals ergriff alle ein Frösteln, bis ins Knochenmark. Sie erhoben sich und begannen sich zu verabschieden. Es war zwei, und sie meinten, es sei jetzt Zeit heimzugehen.
    Als erster, wie es sich gehörte, verabschiedete sich der Genosse Direktor. „Warum so eilig?“ fragte die Hausfrau im Vorzimmer, während sie ihn zum Ausgang begleitete. „Es war so schön von Ihnen, uns zu besuchen. Ich hoffe, wir werden uns jetzt öfters sehen und Sie werden das nächste Mal nicht allein kommen.“
    „Noch einmal!“ Er verneigte und bedankte sich, und sie ging die paar Stufen zur Haustür hinab, schloß auf und legte die Hand auf die Klinke. Genau in diesem Augenblick tauchte der Hausherr mit seiner spitzen Nase und seinem Glatzkopf im Vorzimmer auf. Die Hausfrau drückte die Klinke nieder; die Tür ging nicht auf. Noch einmal drehte sie den Schlüssel um; auch jetzt ging’s nicht, obwohl aufgeschlossen war.
    „Etwas nicht in Ordnung?“ fragte der Hausherr mit seiner kreischendsten Stimme.
    „Ich weiß nicht, am Schloß scheint was zu sein. Willst du mal nachsehn?“
    „Ah!“ sagte er siegesbewußt und wollte zum Ausdruck bringen, daß sie nicht einmal das ohne ihn könnten und er sogar das machen müsse. Er kam zur Tür herunter, versuchte sie aufzudrücken, kroch, kurzsichtig wie er war, fast ins Schloß, warf sich mit seinen schmalen Schultern gegen die Tür, die bog sich unter dem Druck und begann zu knacken. Es ging nicht.
    „Seltsam!“ gab er zu, und der Genosse Direktor kam, um ihn abzulösen. „Gestatten Sie einem Metallarbeiter … Ich hab verschiedene Türen, hinter denen ich gegen meinen Willen saß, aufbekommen …“ Auch er prüfte das Schloß, dann stemmte er mit dem Rücken, und die Tür begann zu jammern, gab nach und bewegte sich ein bißchen. Um Fingerbreite. Auch er konnte sie nicht aufbekommen. „Verriegelt ist sie nicht“, sagte er. „Da hängt was – als wenn von außen was dagegendrückt.“
    „Was könnte das sein?“ fragten sie und gingen alle drei ins Haus zurück, wo auch die andern schon auf den Beinen waren und abwarteten, bis die Hausherrn dem Genossen Direktor das Geleit gegeben hatten, damit dann auch sie sich verabschieden und gehen konnten. „Was ist passiert?“ schrie hysterisch eine geschiedene Frau auf, als sie die drei hastig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher