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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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Bahnhof war ausreichend geräumt. Er fuhr ab, die Kolonne folgte ihm.
     
    Am anderen Tag erschienen die Zeitungen mit Verspätung – erst irgendwann gegen sieben Uhr, unmittelbar vor Beginn der Arbeitszeit. Die durchgefrorenen Zeitungsverkäufer, denen der Verlust eines ganzen Tagesverdienstes drohte, rannten wie von einer Hand hinausgeschleudert nach allen Seiten durch die Straßen, um sich zu erwärmen und um ihre Zeitungen loszuwerden, bevor die verspäteten Angestellten und die wenigen Passanten in den warmen Wohnungen und Büros verschwunden waren. Laut riefen sie ihre Schlagzeilen aus, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und mit ihrem Geschrei und ihrer Rennerei gelang es ihnen tatsächlich, die Menschen zum Stehen zu bringen. Die Menschen kauften die Zeitungen mit dem Gefühl, daß gestern und heut nacht etwas passiert sei, etwas Ungewöhnliches und Großes.
    Wirklich, die Überschriften waren bunt und aufregend. „Neue Mondsonde gestartet!!“ – „Atombombenexplosion in Nevada!“ – „Erhöhte Radioaktivität über Japan!“ – „Hundert Tote bei Eisenbahnunglück in London!“ Es wurde gemeldet, ein schwerer Sturm habe gestern ein Schiff an unsere Küste geschleudert, auf den vereisten Straßen seien etliche Autos zusammengestoßen und im Dorfe Ripanj zwei Bauern bei einer Schlägerei umgekommen, und der Kassierer eines Unternehmens habe fünf Millionen Dinar veruntreut. Alles das riefen die Verkäufer aus, aber allmählich, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Kälte, die sie dauernd an sich erinnerte, gingen sie auf die Wetterberichte über, bis diese schließlich alle übrigen übertönt und verdrängt hatten: „Schnee!“ schrien die Verkäufer, „Schnee!“, als sähen die Leute diesen nicht um sich und spürten ihn nicht unter den Sohlen. „Schnee!“ brüllten sie. „Schnee über dem ganzen Land!“
    Tatsächlich, wie man aus den Meldungen ersah, hatte es überall geschneit. Sogar an der Küste. Aus Bar wurden fünfzehn Zentimeter Schnee gemeldet, was dort seit fünfzig Jahren nicht vorgekommen war und um diese Jahreszeit seit Menschengedenken noch nicht. Der Schaden ist noch nicht abgeschätzt, doch ist er bestimmt hoch, zumal der Schnee die frischen Orangensetzlinge vernichtet hat. Ähnlich steht es der ganzen Küste entlang, so daß die Bürger dieses Jahr kein Frühgemüse und auch kein Obst haben werden, das traurigerweise bereits in der Blüte erfroren ist. Den schlimmsten Anblick indessen hat das Sterben der Vögel geboten, die, angezogen vom milden Wetter, vor der Zeit aus den wärmeren Gegenden zurückgekehrt waren, und nun hat der Schnee sie zu Tausenden niedergestreckt. Vereinzelt hocken sie noch vor den Fenstern und in den Bäumen. Die Bürger versuchen sie zu retten – die, halbtot, nicht fliehen und sich von den Menschen ruhig anfassen lassen. Sobald der Flug- oder Eisenbahnverkehr wiederhergestellt sein wird, werden die Leser Aufnahmen dieses ebenso traurigen wie ungewöhnlichen Anblicks zu sehen bekommen.
    Im Landesinnern, besonders in den nördlichen und in den gebirgigen Gegenden, ist die Lage noch schlimmer; stellenweise liegt der Schnee einen Meter hoch. Der Verkehr ist auf allen Straßen unterbrochen, und nach bisher unbestätigten Meldungen ist auf den Strecken und Straßen der Lika, Bosniens und Montenegros eine Reihe von Zügen, Autobussen, Last- und sogar Personenwagen steckengeblieben und vom Schnee zugeweht worden. Sportler und Soldaten haben Ski-Staffeln organisiert, um die Verschütteten zu bergen. Ein Franzose, der auf der Autobahn unmittelbar vor Zagreb aus dem Schnee gezogen wurde, rief, von seinen Rettern begeistert: „C’est formidable!“ und versprach, er werde allen Leuten in Frankreich vom Opfermut und der Gastfreundschaft unserer Menschen erzählen.
    Es folgten Berichte von den verschneiten Flugplätzen, von den unterbrochenen Fernsprechleitungen und von den Anstrengungen der Jugend- und der gesellschaftlichen Organisationen „sowie unserer gesamten Bürgerschaft bei der Räumung der allerwichtigsten Verkehrswege“. Der Wetterbericht wiederholte im Grunde nur die, etwas vergrößerten, Berichte der Korrespondenten, dafür aber gab er eine fachmännische Erklärung des eingetretenen Wetterumschwungs, zusammengefaßt in der Formel von einem „überraschenden Einbruch kalter Polarluft, hervorgerufen durch ein Tief über der Pannonischen Tiefebene und dem nördlichen Teil der Balkan-Halbinsel“. Es wurde bemerkt, daß es sich um eine
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