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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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und starrt auf den ungeliebten Grenzstein, nachdenklich, auf den Stein, der ihr noch jedesmal ein Gefühl für Zentimeter abverlangt und sie zu anstrengenden Manövern zwingt; schnell duckt sich Sophia, streicht einmal über den Stein - eher in ungläubiger als berechneter Erwartung - und weicht ängstlich zurück, als auch dieser Stein sich zu regen beginnt, schmilzt, das Laufen bekommt wie ein Käse in der Wärme. Da kann sie doch nur in ihr Auto steigen und im Vertrauen darauf davonflitzen, daß niemand sie beobachtet hat - die Feder übrigens wohlverwahrt in der Handtasche.
      In dem von ihr beherrschten Vorzimmer findet sie kein besseres Versteck für die Handtasche als im untersten Fach ihres Spezialschreibtisches, der mehrere Telefone trägt, eine Sprechanlage, Eingangs- und Ausgangskörbe. Der - wie meistens - gutgelaunte Chef, den still zu bewundern sie sich angewöhnt hat, begrüßt sie mit Handschlag, läßt sich - reichlich aufgeräumt - aus ihrem Urlaub erzählen und eröffnet Sophia, daß er während ihrer Abwesenheit eine neue Kraft eingestellt habe: Fräulein Driessel aus der Personalabteilung, die ab heute auch im Vorzimmer sitzen und arbeiten werde, zu Sophias Entlastung. Und wie auf ein Stichwort erscheint Irmtraud Driessel, selbstbewußt, ein Mädchen, von dem Sophia behaupten möchte, daß es mehr Wasser als üblich zur Morgenwäsche verbraucht; der Chef macht miteinander bekannt. Etwas zaghafter, etwas bescheidener dürfte Fräulein Driessel schon ihren Schreibtisch in Besitz nehmen, schließlich ist sie ja neu hier, hat sich zumindest noch nicht das Recht ersessen, im Drehstuhl probeweise so herumzuwirbeln, daß ihr Haar, der Fliehkraft gehorchend, in die Waagerechte aufweht. Der Chef immerhin scheint an dieser unbekümmerten Erprobung Gefallen zu finden, und Sophia komplizenhaft zuzwinkernd, bestellt er Fräulein Driessel gleich mal zum Diktat, in der ausgesprochenen Hoffnung, daß sie sich bei der Arbeit ebenso »frisch« zeigen werde.
      Sophias rechtmäßige Enttäuschung bekommen nun die vielfarbigen Briefe zu spüren, die sie beinahe wütend aufschlitzt, lustlos überfliegt und nach einem geltenden Schema registriert, ehe sie sie knapp aus dem Handgelenk in den Eingangskorb schleudert. Sophia denkt: Es ist immer so. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub muß man im Betrieb mit bösen Überraschungen rechnen, und diesen Gedanken begleitet sie mit heftigem Kopfnicken. Da läßt ein durch die Polstertür gedämpftes Lachen sie hellhörig werden - lacht man so beim Diktat? Sie springt auf, stürzt zur Tür, aber nur, um dem Kunstkalender, den in ihrer Abwesenheit niemand korrigiert hat, 21 Tage abzureißen. Wieder dringt quietschendes, jedenfalls hochangesetztes Gelächter aus dem Chefzimmer, worauf Sophia als langjährige und rechtmäßige Herrscherin des Vorzimmers in souveränem Entschluß ihre Handtasche hervorzieht, der Handtasche die Feder entnimmt und in Höhe des Kunstkalenders, nein, unter dem angehobenen Kunstkalender einen energischen Kreis zieht - münzengroß nur. Die Wand seufzt, der Stein erweicht und tropft lautlos weg, und durch das entstandene Loch wirft Sophia einen Blick in das Chefzimmer, läßt bei langsamer Drehung das Zimmer vorüberwandern bis zur eindrucksvollen, gediegenen Schreibtischecke. Soll das ein Diktat sein? Bei dem, was ihrem Blick zugemutet wird, könnte jeder verstehen, daß sie sich nicht nur enttäuscht, sondern auch mit redlicher Erbitterung vom Guckloch zurückzieht und auf dem kurzen Weg zum Schreibtisch schmerzhaft Abschied nimmt von liebgewordenen Vorstellungen. Das Papier, das sie jetzt in die Schreibmaschine einzieht, kann gar nichts anderes - es muß ihr Gesuch um Versetzung in eine andere Abteilung werden.
      Von nun ab wird ihr Verhältnis zur grauen Schwungfeder skeptischer, sie trägt sie oft in der Hand, dreht sie ruckweise zwischen Daumen und Zeigefinger; einmal vergißt Sophia sie in einem Café, kehrt jedoch von weither zurück, um sie zu holen. Und an einem Wochenende, allein in ihrem kühlen Apartment im Turmhaus, vor dem offenen Fenster, wirft sie die Feder hinaus, sieht sie trudeln und gleiten, bis ein plötzlicher Aufwind sie erfaßt und zu Sophia zurückweht. Sie wirft sich auf die Couch und liest bei ihrer Lieblingsmusik ihr Lieblingsbuch - »Haus aus Hauch« -, die Feder als Lesezeichen benutzend. Sie tut es so lange, bis nebenan der kleine Junge zu jauchzen und zu quietschen beginnt, der Sohn des bedeutenden, allzeit höflich
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