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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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grüßenden Schauspielers Kreuzer. Ein leiser Strich über die Wand, eine bange Bewegung genügen, und durch den entstandenen Schlitz erkennt sie den Jungen, der auf dem Fußboden sitzt, allein, umgeben von seinem Spielzeug, von Kränen, Bulldozern, Lokomotiven und Kanonen. Zuhauf liegen die Puppen seiner apfelbäckigen Schwester, die offenbar ihre Eltern hat begleiten dürfen; er hat die Puppen einfach aufeinandergeworfen, und nun entkleidet er sie jauchzend, blonde und brünette Puppen, stellt sie nackt auf den Boden und zieht genüßlich die Uhrwerke von Bulldozern und Panzern auf. Er klatscht in die Hände, wenn ein Panzer oder ein Schneepflug eine Puppe rammt, niederzwingt, überfährt; er trommelt vor Freude auf den Boden, wenn die Lokomotive einen kleinen Puppenkörper auf den Schienen vor sich herschiebt.
      Quietschend schraubt er sodann einzelnen Puppen die Glieder ab, verlädt sie mit seinem Kran auf einen Lastwagen und kippt sie sozusagen an der Böschung des Bahndamms aus. Zwei große grinsende Stoffpuppen exekutiert er mit der Erbsenkanone. Sophia fragt sich erschrocken, was die Mutter des Jungen nach ihrer Rückkehr sagen wird, Frau Kreuzer, die sie schon zweimal zur Besichtigung ihrer Steinsammlung eingeladen hat. Hastig verstopft Sophia den Schlitz mit Watte, läuft auf der Suche nach einem angemessenen Entschluß durch ihre Wohnung, wirft auf einmal den Mantel über und fährt zum Parkplatz hinunter. Mit hallenden Schritten geht sie zu ihrem Auto, immer wieder ausgewischt von den Schatten der roten Zementpfeiler und zum Vorschein gebracht durch das indirekte Licht, und plötzlich, als sie über den zerschmolzenen Grenzstein tritt, versperrt Siebeck ihr den Weg, der die Aufsicht über die Garage hat. Er halt ihr grinsend die offene Hand hin; stumm fordernd, darin sicher, daß sie weiß, was er meint. Dennoch versteht sie seine Geste nicht, und er muß ihr beibringen, daß er ihr Mitwisser ist, daß er vorübergehend die Feder braucht, nur mal für ein Wochenende, für ein spezielles Unternehmen; um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, deutet er auf die zerflossenen Reste des Grenzsteins. Sophia zögert, denkt an Flucht. Da reißt er ihr die Feder aus der Hand und stürzt triumphierend zu einer hüfthohen Betonwand, will gleich ausprobieren, was die Feder am Stein leistet, wie sie die Härte besiegt. Er streicht über eine Ecke, er reibt und kitzelt den Beton, doch nichts regt sich, nichts zerfällt - worauf Siebeck, nach einiger Unschlüssigkeit, die Feder in Sophias Hand zwingt und ihre Hand zart über den Beton führt. Und jetzt beginnt es zu sacken, zu schmelzen, die berührte Ecke erweicht und fließt in zähen Tropfen ab. Siebeck steht da und sieht aus wie einer, der einmal gefaßte Gedanken von neuem bebrüten muß, und dann nickt er, einverstanden mit sich selbst, da er anscheinend eine Lösung gefunden hat - die einzige, die übriggeblieben ist: Sophia wird ihn begleiten müssen, da die Feder offenbar nur in ihrer Hand das Erwünschte leistet. Er zwingt sie, in seinen Wagen einzusteigen, freundlich, mit entschlossener Sanftmut, und dann fahren sie hinaus an den Strom zu dem weißen, schwimmenden Restaurant. Über eine federnde Brücke gehen sie an Bord, wo Siebeck respektvoll von einigen Kellnern begrüßt wird und vertraulich vom Wirt, der es sich nicht nehmen läßt, sie persönlich zu einem Tisch am Fenster zu führen, und ihnen auf Kosten des Hauses einen Willkommenstrunk servieren läßt. Als Siebeck sich in unerwarteter Förmlichkeit entschuldigt, winkt Sophia beruhigend ab: es sei doch ganz gemütlich hier, und außerdem gäbe es hier wohl garantiert frische Seezungen.
      Da der Wirt selbst sich um das Wohlergehen besorgt zeigt, glaubt Siebeck ihr erklären zu müssen, woher die Achtsamkeit rührt, und er stellt sich und den Wirt als ehemalige Soziologiestudenten vor, die schon auf der Universität zueinander fanden. Und nicht nur dies: in langen Gesprächen entdeckten sie ihre gemeinsame Verachtung für die repressive Leistungsgesellschaft. Gleichzeitig warfen sie das akademische Handtuch und entschieden sich dafür, etwas gesellschaftlich Relevantes zu tun - nämlich in diesem schwimmenden Restaurant, beziehungsweise in der Garage.
      Bei der zweiten Flasche Wein - feine Spätlese, Kröver Steffensberg - erläutert Siebeck Sophia die vielfältige Bedeutung ihres Vornamens, und wenn ihr auch das meiste bekannt ist, hört sie die Erläuterungen gern und ist einfach angetan
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