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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Autoren: Siegfried Lenz
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von der Art, wie er ihren Vornamen ausspricht. Beim Tanz auf der winzigen Tanzfläche spürt sie die leichten dünenden Bewegungen des schwimmenden Restaurants; ihr gefällt es, wie beherrscht Siebeck sich ihrem Rhythmus anpaßt, sobald sie einmal gestolpert ist. Sie ist einverstanden damit, daß er sie an der Hand zum Tisch zurückführt, und empfindet es als ausgesprochen nett, daß er ihr Lieblingsdessert zum zweiten Mal bestellt: Vanille-Eis mit Rum und Kirschen.
    Ein einziges Mal nur erwähnt er die Feder beiläufig, ent
    wertend, es sei doch wohl alles eine Sinnestäuschung gewesen, sagt er und tut sehr erstaunt, als Sophie ihm widerspricht und behauptet, daß die Feder tatsächlich jeden Stein zur Nachgiebigkeit zwingt. Er schüttelt ungläubig den Kopf. Er möchte wissen, wie oft man ihr schon gesagt habe, daß sie beim Lächeln die Nase kraus zieht. Und ebenso möchte er wissen, ob sie weiß, daß ihre Augen von verschiedener Farbe sind. Und schließlich ihr Gang: ob ihr bewußt sei, daß sie sich im Windsor-Gang fortbewege, also über den großen Onkel. Über ihren Gang, sagt sie amüsiert, habe ihr noch niemand etwas so Genaues gesagt, vermutlich, weil bisher noch niemand sie so genau ins Auge gefaßt habe. Leider muß Sophia nun mehrmals niesen - das kommt gewiß vom offenen Fenster und der Nähe des Stroms -, und da sie nur ein Taschentuch bei sich hat, geht Siebeck zum Wirt, um ein Päckchen Tempotaschentücher zu besorgen. Während beide Herren sich in den engen Direktionsraum zurückziehen, kramt Sophia in ihrer Handtasche, findet offenbar nicht, was sie sucht, packt alles wieder ein, zuletzt die Feder - nein, sie korrigiert ihren Entschluß und nimmt die Feder zwischen die Finger, Sie überlegt sichtbar. Und dann spießt sie mit dem Federkiel eine der Maraschino-Kirschen auf, zwängt beides, Kirsche und Feder, in eine leere Weinflasche, hält die Flasche lächelnd aus dem Fenster und läßt sie in den Strom fallen, unbemerkt. Der Wirt bringt die Tempotaschentücher persönlich; für
    sorglich schließt er das Fenster, von Siebeck unterstützt, und danach verharrt er in Gehemmtheit, nicht lange allerdings: er fragt, ob es tatsächlich zutreffe, was Herr Siebeck ihm gerade erzählt habe, ob es tatsächlich diese wunderbare Feder gäbe, unter deren Berührung jeder Stein wegschmelze. Ob er sie einmal sehen dürfe? Sophia lächelt; sie lächelt triumphierend, und mit einer Erleichterung, die sie selbst am besten begründen könnte, stellt sie fest, daß sie sich von dem »verruchten Ding« gerade befreit habe. Gewaltsam. Flupp und weg. Sie erwartet, daß ihr Lächeln von Siebeck erwidert wird, doch zu ihrem Erstaunen reißt der in empörter Eile das Fenster wieder auf, blickt den Strom hinunter, zischelt dem Wirt etwas zu und stürzt hinaus - noch im Abdrehen mustert er Sophia mit wütendem Vorwurf. Der Wirt ruft einigen Kellnern etwas zu, worauf diese hinter Siebeck herlaufen.
      Sophia kann nicht anders, sie muß annehmen, daß der heitere Abend beendet ist. Sie hat jetzt keine Lust, ihr LieblingsDessert aufzuessen. Da man sie so eilig verlassen hat, verläßt auch sie mit blickloser Eile das Restaurant, strebt dem engen Niedergang zu, stößt sich empfindlich; doch sie beißt die Zähne zusammen und steigt hinauf zur Garderobe. Die alte Garderobiere, die ihr den Mantel reicht, hat nicht nur Nähzeug, sie hat auch Pflaster bereit, und mit klammen Fingern klebt sie Sophia ein Pflaster aufs Jochbein. Auf der federnden Brücke bleibt Sophia stehen und sieht auf den Strom hinab: dort laufen sie am Ufer entlang, rufen, scheinen die treibende Flasche entdeckt zu haben.
      Nach kurzer Unschlüssigkeit überquert Sophia die Straße und schlendert, immer zögernder, an Schaufenstern vorbei, an einem naßglänzenden Denkmal. Sie hebt ihr Gesicht in den Regen auf. Sie bleibt stehen. Sie muß sich an einem Scherengitter anlehnen. Ist Ihnen schlecht, fragt eine vorübergehende Frau, und Sophia winkt ab: Es geht schon, danke, es geht schon wieder. Und dann hört sie die Laufschritte aus dem Schatten, und sie strebt eilig in Richtung zum Hauptbahnhof. Sie flieht vor den Schritten, ohne auf die Straße zu achten. Sie hört ihren Namen, dringlich, einmal und noch einmal, und jetzt bleibt sie erschöpft stehen und läßt Siebeck herankommen. Er hält die Feder in der Hand; und ohne Sophia um Erlaubnis zu bitten, legt er die Feder in ihre Handtasche, hakt sie ein und zieht sie mit sich. Natürlich hat er ihr sowohl
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