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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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nichts daraus machten.
    Da während der Ruhestunden und unmittelbar vor der Besuchszeit ein richtiger Wolkenbruch einsetzte, kam Mutter durchnäßt und sehr verstimmt an. Sie sagte mir gründlich die Meinung, weil ich an meinem Tag zu Hause geweint hatte, sagte, daß alle sich vorgenommen hätten, mir den Tag schön zu machen, und daß ich ein höchst unbefriedigender Gast gewesen sei. Ich erklärte ihr, daß die Tränen mir nur vor Freude gekommen seien, aber sie rümpfte nur die Nase und gab mir zu verstehen, daß ich ein großer Trauerkloß und sehr verwöhnt sei. „Du hast dich acht Monate lang mit dir selbst beschäftigt, jetzt ist es Zeit, daß du anfängst, an andere zu denken.“
    Ich wünschte, ich könnte sagen, daß ich sofort angefangen hätte, an andere zu denken, und dadurch sehr viel glücklicher geworden sei. Ich tat es nicht. Sobald die Besuchsstunden vorbei waren, erzählte ich Kimi und Sheila, wie schrecklich verständnislos meine Familie sei. Sie warteten mit ähnlichen Geschichten von Hartherzigkeit ihrer Angehörigen auf. Nach dem Abendbrot saßen wir im Waschraum, tranken Tee, aßen Kuchen und sprachen davon, wie schwierig es für uns zartbesaitete, verletzliche Gemüter sein würde, in der großen, grausamen Außenwelt die rechte Pflege zu bekommen.

ACHTZEHNTES KAPITEL
    Laßt mich raus! Laßt mich raus!

    Der Chefarzt des Fichtenhains übernahm persönlich die Verantwortung für alle Aufnahmen im und alle Entlassungen aus dem Sanatorium. Er nahm keinen als Patienten auf, der es sich leisten konnte, in ein Privatsanatorium zu gehen; und nur wenn er ganz sicher war, daß es einem Patienten gut genug ging, wieder sein normales Leben zu führen, entließ er ihn in Ehren.
    Die Patienten im Fichtenhain bezahlten gar nichts oder soviel sie aufbringen konnten, und nur der Chefarzt wußte, wer wieviel bezahlte. Menschen, die jederzeit den Tod dicht neben sich wissen, haben kaum falschen Stolz, und die Nicht-Zahlenden waren, wie sie selbst zugaben, weit in der Mehrzahl. Der Chefarzt regierte sein Sanatorium und die Patienten mit eisernem Zepter. Er sagte ständig, daß Leute mit Tuberkulose undankbar, töricht, widerspenstig und unwürdig seien. Aber in der gleichen Weise, wie er die Patienten über ihre Operation im Dunkeln ließ, verbarg er auch seine Güte, und lieh dann den gleichen undankbaren, törichten, widerspenstigen, unwürdigen Patienten Geld, kaufte ihnen Bademäntel und Schlafanzüge, sorgte für ihre Kinder und Familien, hörte sich ihre Nöte an, half ihnen, Arbeit zu finden, und zerbrach sich vierundzwanzig Stunden am Tag den Kopf über ihr Wohlergehen.
    Wir Patienten im Fichtenhain unterschieden uns nach Farbe, Nationalität, politischer Überzeugung, Grad der Intelligenz, Alter, Religion, Herkommen und Zukunftsplänen. Mit den Maßstäben des normalen Lebens gemessen, hatten die meisten von uns nur zwei Tatsachen gemein: sie waren lebendige Wesen und sie sprachen Englisch. Als Patienten des Sanatoriums aber hatten wir alles gemein und waren fest verbunden durch unsere Undankbarkeit, Dummheit, Widerwilligkeit, Unwürdigkeit, Armut, Tuberkulose und unsere Sehnsucht nach Entlassung.
    Entlassungen wurden montags sofort nach der Ruhezeit bekanntgegeben und kamen (außer in einem so seltenen Fall wie etwa bei Sigrid, die sich so gut angepaßt hatte, daß sie ihre Tuberkulose auf Untergrundbahnfahrten hätte ausheilen können, oder wenn jemand zum Sterben nach Hause geschickt wurde) nur für Patienten mit acht, zehn oder zwölf Stunden Aufstehzeit in Frage.
    Da dem Patienten nie etwas über den Fortschritt seiner Tuberkulosekur gesagt und er nie auf eine bevorstehende Entlassung vorbereitet wurde, konnte man sich dabei auf eine unerwartete, großartige Überraschung gefaßt machen. Tatsächlich waren sämtliche Acht-Stunden-Patienten jeden Montag von 5 Uhr 30 in der Frühe bis 3 Uhr zappelig vor Erwartung; während der Ruhezeit lagen sie steif vor Aufregung in ihren Betten und lauschten auf das Trapp, trapp, trapp der Schritte ihrer Oberschwester. Wenn Wochen, ja Monate ohne eine einzige Entlassung verstrichen waren, legte sich die Spannung, vielmehr ließen wir die Köpfe hängen und machten finstere Pläne für unser drittes Weihnachten, unseren vierten Sommer im Fichtenhain.
    Während einer dieser deprimierenden Perioden ohne Entlassungen nahm ich mir vor, so fließend Japanisch lesen und schreiben zu lernen, daß ich sogar Diktate in Japanisch aufnehmen konnte. Kami sagte, sie würde
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