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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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wenn er Entlassungen aussprach. Anscheinend tat er es, denn die Tage gingen dahin, und wir waren weiter unzufrieden, unglücklich, aber eingesperrt.
    Der nächste Montag war dunkel und trübe. Der Rauch aus dem Lagerhausschornstein hing träge über den Dächern, und das anhaltende Klatschen des Regens wurde begleitet von dem Staccato der Tropfen aus den Dachrinnen und dem aufgeregten Plätschern des Brunnens. So ein Tag konnte nichts Gutes bringen und brachte es auch nicht. Ich hatte eine neue Zimmer gefährtin. Ein ganz junges Mädchen, die wie eine Madonna aussah und mir erzählte, daß sie ein Buch schreibe. „Über Räuber und so’n Zeug. Die Einfälle kommen mir ganz leicht, aber das Schreiben ist so schwer.“
    Der nächste Montag war wunderschön und warm, mein Verlangen, von dem geraden, schmalen Pfad zum Frühstück abzuschweifen, fast überwältigend stark. In den Ziergärten waren die Staudenbeete geschmückt mit kleinen, tiefpurpurroten und blauen japanischen Iris, scharlachroten und gelben Nelken, großem, lappigem Doronicum, blaßgelben Tulpen und blauen und purpurroten Veilchen. Alles war mit Tau getränkt, und ich hatte Lust, mein Gesicht in die duftende Kühle zu bergen. Dieses einfache Vergnügen war mir jedoch verwehrt, denn die Leitung hatte mich belehrt, daß ein Spaziergang durch das Gelände vor dem Frühstück nur eines bedeutete – L-i-e-b-e.
    Am Freitag vor dem nächsten Montag kam ich zur Untersuchung und verbrachte die Ruhezeit mit dem Entwurf zu einem geeigneten Abschiedsschreiben für Miß Gillespie. Ich schwankte zwischen einem wohlgezielten Fußtritt und einem würdigen und hochmütigen Abgang. Kein Wort über die Untersuchung. Meine Sehnsucht nach Hause war so mächtig, daß ich das Sanatorium im Geist bereits verlassen hatte. Nur mein plumper Körper blieb noch da, wie ein leeres Haus mit kalten, unfreundlichen Zimmern und dunklen Fenstern.
    Die Beschäftigungstherapie-Werkstatt war sehr überfüllt, und Miß Gillespies Schrei nach „Ruhe! Brauch Ruhe! Ruhe! “ erklang ungefähr jede Minute einmal wie ein Gongschlag. Eine von den ahnungslosen neuen Patientinnen entfesselte eine Verwüstung, weil sie annahm, daß die Aufschrift „Damentoilette“ auf einer Tür im Flur, gegenüber von der Beschäftigungstherapie-Werkstatt, eben dieses bedeutete, und hineinging. Miß Gillespie, die gerade mit Feuereifer ihr eigenes Abbild auf einen Strumpfbandknopf malte (ein hübsches Weihnachtsgeschenk), merkte nicht, was passiert war, bis sie sah, daß in der Toilette Licht brannte. Sie explodierte. „Wer ist da? Wer ist da reingegangen? Was ist hier los?“ Sie schoß von ihrem Platz hoch und an die Tür zur Damentoilette. Die Tür war verschlossen. „Aufmachen! Aufmachen!“ verlangte sie und schlug so laut an die Tür, daß alle Männer aus der Druckerei nebenan auf den Flur kamen und sehen wollten, was da los sei. Die arme, verstörte kleine Patientin schloß die Tür auf, Miß Gillespie ergriff sie am Arm und stieß sie in die Werkstatt. „Gehen Sie niemals da hinein!“ schrie sie. „Beherrschen Sie Ihre Blase! Beherrschen Sie alles.“ Sie setzte sich wieder an ihre Malerei. Kimi beobachtete sie ein paar Minuten und sagte dann: „Sie malt ihr eigenes Bild auf irgendeinen ganz kleinen Gegenstand. Sollte das ein Nierenstein sein?“
    Der 12. Juni begann mit einem wunderschönen Sommermorgen. Der Laubengang zum Speisesaal war dicht überzogen mit rosa Rosen und purpurner Klematis. Lange Bänder purpurner und blauer Veilchen säumten die Beete im Ziergarten, und in allen Ecken standen Tuffs großer Päonien mit schweren Köpfen. Die feuchte Luft duftete und ein sanfter Wind schlug behutsam gegen die Blätter der Pappeln, die bald silbern, bald grün schimmerten. Die hellgekleideten Patienten, die langsam und gesetzt zum Speisesaal schritten, erinnerten so sehr an Figuren in einem Festzug, daß ich glaubte, hinter der Ligusterhecke müsse ein Chor hervorkommen.
    Sheila, Kimi und ich beschlossen über unserem Morgenkaffee, daß wir von jetzt ab der Oberschwester und Miß Gillespie mit stoischer Ruhe und völliger Gleichgültigkeit begegnen wollten. Kimi sagte, sie spiele zudem mit dem Gedanken, eine eigene Sanatoriumszeitschrift als Konkurrenzunternehmen herauszubringen; sie sollte „Über den Spucknäpfen“ heißen. Wir fragten Miß West, eine freundliche kleine Schwester, ob sie wohl meinte, daß wir eine Chance hätten, an diesem Tag entlassen zu werden, aber sie sagte, wir sollten
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