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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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Puppenkleider-Schneiderin, Geschichten-Erzählerin und Spaziergängerin. Aber sie war Pessimistin, Pessimistin von der Sorte, die mit jeder Wolke ein Unwetter heraufziehen sieht. Pessimistsein, das war bei Gammy kein plötzlich auftretender, durch Nerven oder schlechtes Befinden hervorgerufener Zustand, es war eine Ganztags-Angelegenheit, und sie hatte ihren Spaß daran. Jeden Morgen, wenn Vater mich, Mary und Cleve aus der Haustür jagte, damit wir um den Block liefen, begann sie mit ihren düsteren Warnungen.
    Wir lebten in Butte in Montana; am Morgen war es oft bitter kalt, und wir Kinder, die für diesen Frühsport nicht den zünftigen Feuereifer aufbrachten, kamen meist aus unseren Zimmern angestürzt und setzten uns an den Frühstückstisch in der Hoffnung, daß Vater den Morgenlauf vergessen hätte. Er vergaß ihn aber nie. „Jetzt bringen wir mal erst Farbe in eure Backen,“ sagte er energisch, löste unsere Finger von Löffel und Gabel, steckte uns in unsere Mäntel und Überschuhe und trieb uns in die frische Morgenluft hinaus. Gammy stand dann an der Tür, winkte mit der „Schüürze“ und jammerte: „Darsie, wie kannst du bloß die armen Kiinder in diese bittere Kälte raus jagen?“
    Wir standen inzwischen an der Vortreppe herum, bliesen unseren warmen Atem in die Frostluft, sahen dem Rauch nach und hofften, daß Gammy den Vater besänftigen würde, aber er lachte nur über sie und schlug die Tür nachdrücklich und endgültig zu. Mißmutig zogen wir ab, schlurften mit den Füßen und stießen uns gegenseitig vom Bürgersteig in den tiefen Schnee, doch wenn ungefähr die Hälfte des Häuserblocks hinter uns lag, stieg die natürliche Kinderfreude am Wettstreit wie Wasserblasen aus der Tiefe herauf, und den Rest des Weges liefen wir um die Wette und kamen mit lebhaft zirkulierendem Blut und, was Mary und Cleve anbetraf, mit rosigen Backen zu Hause an. Wer zuerst hinten an der Haustür war, hörte jedesmal, wie Gammy sagte: „Da kommen ja die armen kleinen Dinger! Jetzt mach ich ihnen aber heißen Proridge.“ (Sie nannte Porridge immer Proridge.)
    Nachdem sie uns heißen Proridge gemacht und jedem eine viel zu große Portion von ihrem grauen, klebrigen, klüterigen Hafermehl aufgetan hatte, nahm Gammy regelmäßig die Morgenzeitung zur Hand und las schlechte Nachrichten vor. „Da lese ich, daß die Hunnen allen belgischen Frauen die Brüste abschneiden,“ bemerkte sie vergnüglich, während sie von dem Proridge nippte. Oder: „Da, ein armes, unvorsichtiges Kindchen hat auf den Bahnschienen gespielt, und dann ist der Zug angekommen und hat ihm beide Beine an den Hüften abgeschnitten. Armes, kleines beinloses Wesen.“ Oder: „Hier steht von einem kleinen Mädchen aus den Bergen, das mit dreizehn Jahren ein Baby bekommen hat. Ja, ja, wir können gar nicht früh genug anfangen, uns einzuprägen, was das Leben mit uns vorhat.“ Wenn sie mit allen schlechten Nachrichten über Leute durch war, las sie Schlechtwetterberichte aus der ganzen Welt. Schneestürme, Zyklone, Trockenheiten, Überschwemmungen, Orkane und Springfluten waren ihr Entzücken. Mutter beschwor Vater, doch die Morgenzeitung abzubestellen; aber uns Kindern machte das Spaß.
    Wie alle Kinder waren wir blutdürstige kleine Ungeheuer und genossen Gammys Geschichten von Unmenschlichkeit, Tod und Gewalt. Unsere Lieblingsgeschichten – Gammy hatte sie erfunden – handelten von einem kleinen Jungen, der sich Bohnen in die Nase schob, und dann wuchs ihm ein Bohnenstrauch oben aus dem Kopf heraus, an dessen Zweigen kleine Teilchen seines Gehirns klebten; und von einem kleinen Mädchen, das einen Pfirsichkern verschluckte, worauf in ihrem Innern ein Pfirsichbaum wuchs, dessen Hauptast sich schließlich in ihre Kehle hinauf seinen Weg bahnte und sie abwürgte. Unsere Lieblingsbücher waren „Struwwelpeter“ und eine heitere kleine Angelegenheit, die ein ehemaliger Mieter in einem unserer Häuser liegengelassen hatte. Darin wurde von Männern erzählt, die im Yellowstone in einer Höhle gefangengehalten wurden und sich gegenseitig auffraßen. Das Buch beschrieb eingehend den Geruch der Suppe, die aus Toms Bein gemacht wurde, und den süßlichen, schweinefleischartigen Geschmack von Ernests gebratenen Armen. Wir haben es fast zerlesen, indem wir es uns von Gammy vorlesen ließen, was sie bereitwillig tat.
    Gammy fand, daß Vaters sämtliche Versuche, uns gesund zu erhalten, eine lächerliche Zeitverschwendung seien, und das war nicht weiter
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