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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance
Autoren: Karin Alvtegen
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betrogen hatte, blieb nur noch der Abgrund. Und dort war der Schmerz unmöglich zu ertragen. Musste ein Mensch erst so weit kommen, bis er dazu bereit war umzudenken? Konnte sich erst dort unten, ganz am Boden, der Gedanke verfestigen, dass man sich auch gegen etwas stemmen konnte?
    Helena hatte ihre Stirn an das Fenster der kleinen Dachkammer gelehnt, in der sie als Kind gewohnt hatte. Das erste Zimmer, das ganz allein ihr gehörte, den Winter über verlassen und ausgekühlt, darauf wartend, dass sie zurückkehrte. Immer mit einem Zettel unter dem Schutzpapier in der mittleren Schublade, ein Geheimnis, das sie versteckt hatte, wenn sie wieder nach Hause musste, das ihr Reich bewachte, bis sie endlich zurückkommen durfte. Das kleine Zimmer mit den vergilbten Blumentapeten, die sie als Erwachsene in ihren Erinnerungen immer wieder neu erschaffen hatte, wenn sie Angst empfand. Das Sinnbild für Geborgenheit. Allein so etwas, wie Schutzpapier am Boden einer Schublade zu haben. Grün mit weißen Punkten und sorgfältig gefaltet, um in die Ecken zu passen. In ihrem Zuhause in Vällingby, wo es selten Laken auf dem Bett gab, blieben sie eine Utopie. Dort gab es nicht einmal frische Wäsche, um sie in eine Kommodenschublade zu legen. Mit zwölf war sie zum letzten Mal von hier abgereist, ohne zu wissen, welch großer Teil von ihr zurückblieb. Ihre Sehnsucht hatte diesen Ort nie verlassen. Im Lauf der Jahre war sie immer wieder in Gedanken zwischen den Zimmern umhergewandert und hatte ehrfürchtig das Paradies der Kindheit gepflegt. Das Loch, das es in ihr hinterlassen hatte, wurde mit der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten gefüllt. Schließlich so stark, dass sie auch tatsächlich zurückkehren musste. Aber die Menschen, denen ihre Sehnsucht galt, waren fort und würden nie mehr zurückkehren. Sie hatten sich vor langer Zeit verabschiedet, als niemand begriffen hatte, dass sie sich zum letzten Mal gesehen hatten.
    Jetzt stand sie da, an jenem Platz, an dem sie ihr Vertrauen verankert hatte. Aber kein Schubladenpapier dieser Welt konnte verbergen, dass sie sich selbst belogen hatte. Dass sie sich irgendwann unterwegs verirrt hatte.
    Der heilige Traum von der Familie, einst so leicht geträumt. Ein frühes Versprechen, das sie sich gegeben hatte, als sie selbst klein war, aber keine Möglichkeit hatte, ein Kind sein zu dürfen. Denn wer hätte sonst die ganze Verantwortung übernommen? Sie wusste nur, dass sie von dem Tag an, an dem sie selbst bestimmen könnte, alles anders machen würde. Eine eigene kleine Familie war ihr als Lösung für alles im Leben erschienen. Das war mit zehn Jahren so gewesen, mit fünfundzwanzig, mit vierzig. Mittlerweile war der Gedanke so selbstverständlich, dass er allen Veränderungen in ihrem Leben standhielt, mit einem sicheren Abstand zu allem, was ihn trüben könnte. Sie ignorierte ihre Frustration, die Sehnsucht nach Martin, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen und sich selbst nicht mehr eingestehen konnte, was sie eigentlich meinte und fühlte. Tief in ihrem Innern hatte sie gewusst, dass es ihre Beziehung zerstören würde, wenn sie den aufreibenden Konflikten ausgesetzt gewesen wäre. Und die Liebe zwischen einer Mutter und einem Vater durfte nicht enden, nicht in ihrer Welt. Das hätte allem widersprochen, an das sie geglaubt hatte.
    Deshalb hatte sie so getan, als gäbe es in ihrer Beziehung keine Probleme.
    Aber die gab es.
    Vielleicht war die Liebe schon in den ersten Jahren erloschen, als Emelie noch klein und der Alltag ein ewiger Kampf war, Tag und Nacht auf der hoffnungslosen Jagd nach etwas freier Zeit. Anfangs hatten sie Seite an Seite gekämpft, aber schließlich waren sie so atemlos geworden, dass ihnen die Kraft zur Nähe fehlte. Die Gespräche waren verstummt. Abends waren sie immer weiter voneinander entfernt eingeschlafen. Sie hatte gedacht, sobald sie am Ziel wären, würden sie nachholen, was sie versäumt hatten. Doch eigentlich hatte sie verstanden, dass ihre Beziehung ihren eigenen Weg gegangen war, während sie selbst sich mit etwas anderem beschäftigt hatten.
    Und wo das Ziel lag, hatte sie nie ergründet.
    Sie schauderte und zog die Jacke enger um sich. Das Zimmer war ausgekühlt, aber erst jetzt spürte sie, dass sie fror. In ihrer Erinnerung war es hier immer sommerlich stickig gewesen, und dort wollte sie noch eine Weile bleiben. In einem kleinen Spalt zwischen dem, was gewesen war, und dem, was kam.
    Das Gefühl, zurückgewiesen worden zu sein,
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