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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Autoren: David Vogel
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paar Worte, die auf einer Seite des Notizkalenders standen: »Heute war ein Frühlingstag. Herrlich und lau«, und andernorts, in ungeübter, runder hebräischer Handschrift: »Und er verstummte und sah mich an mit einer Trauer im Blick, die ich nie zuvor gesehen habe. Ich zog eine seiner russischen Zigaretten heraus und steckte sie ihm zwischen die Lippen.«Rund hundertzwanzig Jahre nach Vogels Geburt fand sich in seinem Nachlass wieder ein bisher unbekanntes Werk. Tatsächlich wurde nur ein kleiner Teil von Vogels Schriften noch zu seinen Lebzeiten aus der stillen Klause des Arbeitstischs, der Jackentasche, der Seiten eines Hefts oder Notizbuchs ans Licht geholt und als fertiges Werk gedruckt. In den letzten sechzig Jahren, seit Abraham Broides und Dan Pagis mit der Durchsicht seines literarischen Nachlasses begannen und später auch Menachem Peri und Aharon Komem ihn durchgingen, sind wichtige und unbekannte Kapitel aus Vogels Schaffen ans Licht gekommen, darunter eine Sammlung seiner letzten Gedichte aus den vierziger Jahren, sein persönliches Tagebuch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, sein zweiter Gedichtband, der als verloren gegolten hatte, und Menachem Peris hebräische Übersetzung/ Bearbeitung eines Romans, den Vogel im Zweiten Weltkrieg auf Jiddisch verfasst hatte. Menachem Peri gab auch alle damals bekannten Prosawerke von Vogel neu heraus – die Novellen Im Sanatorium (1927) und An der See (1934) und den Roman Eine Ehe in Wien (1929 –1930) – aufgrund der im Archiv befindlichen Manuskripte. Diese Arbeit, die im Wesentlichen in den achtziger und neunziger Jahren erfolgte, machte Vogels Prosa erneut der Öffentlichkeit zugänglich. Peri war der Erste, der Vogel in der neuen hebräischen Literatur verankerte, nicht nur als Dichter, sondern auch – und vor allem – als Schriftsteller, dessen Werke in einer Reihe mit den Meisterwerken der modernen Literatur gelesen werden, der hebräischen wie der ins Hebräische übersetzten. 2
    Vermutlich sind die fünfzehn Papierbogen, die das Manuskript des unveröffentlichten Jugendromans enthalten, erfahrenen Vogel-Experten, die das Archiv durchforsteten, schon mehrmals vor Augen gekommen, aber sie wurden nie vollständig entziffert und als eigenständiges Werk erkannt. Die Bogen sind eng beschrieben mit winzigen Buchstaben, die die Seiten vollständig bedecken, ohne Ränder und ohne jeglichen Abstand zwischen Absätzen und Kapiteln, und auf den ersten Blick hielt auch ich sie für eine wahllose Ansammlung von Entwürfen ohne Überschrift. Außerdem dachte ich nach der Entzifferung eines beliebig herausgegriffenen Bogens aus dem Konvolut, es sei keine Neuentdeckung, sondern nichts als ein unbekannter Entwurf der Novelle An der See , zwar ein recht früher und partieller Entwurf, aber man erkannte deutlich die sommerliche Landschaft dieser erotischen Novelle, die in einem südfranzösischen Ferienort spielt. Auch die vertrauten Namen der Feriengäste am Meeresstrand erkannte ich bei jener ersten Lektüre im Tageslicht, das damals durch die großen, verrußten Fenster im Lesesaal des Archivs Genazim drang.
    Erst auf einem der nächsten Bogen, der genauso beliebig aus dem gleichen Papierstapel gezogen wurde, änderte sich mit einem Schlag die erholsame, sonnige Atmosphäre der Novelle und ging in die Beschreibung einer städtischen Landschaft über: Anstelle des langgestreckten Sandstrands der französischen Riviera fuhr plötzlich eine vollbesetzte Tram an einem Kanal entlang, blinkten die rosa Lichter eines Kabaretts, stand ein uniformierter Polizist auf der Ringstraße. Man brauchte nicht weiterzulesen – ich wusste: Das war Wien, Vogels Wohnort in den Jahren 1912–1925.
    Die Papierbogen, die damals auf meinem Tisch verstreut lagen, enthielten also, abgesehen von einem frühen und partiellen Entwurf der Novelle An der See , ein weiteres unbekanntes Manuskript, das fast genauso aussah. Im Lauf der Zeit, nach der Entzifferung und Ordnung aller fünfzehn Bogen, die das Werk von Anfang bis Ende enthalten, erkannte ich, dass es sich um einen Jugendroman handelte, den Vogel in winziger, dicht gedrängter Schrift geschrieben und dann zwischen den anderen Manuskripten verborgen hatte – sei es, um die Arbeit daran aufzugeben, sei es, um zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückzukommen, der schließlich nicht mehr eintrat.

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    Eine Wiener Romanze ist zum Großteil ein Frühwerk Vogels, das hier und da noch eine gewisse Unreife erkennen lässt, verglichen mit dem
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