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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Autoren: David Vogel
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die Kaffeehäuser oder sitzen im Wirtshaus, essen kalten Braten zum Bier, gehen zu den Klängen der Kapelle im Volksgarten spazieren oder spielen Karten im Hinterzimmer. In dem mit Korrekturen und Streichungen übersäten Manuskript stellt Vogel reiche Erben, die entwurzelt am Rand der Gesellschaft stehen, neben mittellose Handwerker. Zu den Personen gehören Peter Dean, der mit allerlei dubiosen Geschäften reich geworden ist und Rost als Gönner unter seine Fittiche nimmt, der suizidgefährdete Aristokrat Fritz Anker, die Gruppe jüdischer Immigranten im Restaurant Achdut (Einigkeit). Diese und andere Figuren kommen und gehen in dem Roman wie durch eine Drehtür. Mal erhalten sie längere Handlungsstränge und Episoden, mal verbleiben sie in einer Galerie von Typen, mal dringt nur der Alltagsstaub von ihnen durchs Fenster in das Zimmer, in dem Rost gerade sitzt, wie die Stimme eines Dienstmädchens vom Dorf, das die Laken vorm Fenster ausschüttelt, wie das Gesicht einer alten Frau, die auf die Allee blickt, wie die Schläge, die aus der Wohnung von Schlosser Glöckner tönen, der seinen Sohn verprügelt, wie die Aufforderung einer Prostituierten an einen Freier, ihr eine Krone Aufschlag zu zahlen. Das sind die genusssüchtigen Männer und Frauen Wiens, die vergebens Befriedigung in Kabarettrevuen, bei überflüssigen militärischen Drillübungen, auf den Laken von Nutten suchen und Zweifel am Sinn ihres Lebens hegen, einen nagenden, wachsenden Zweifel, der sich auf den Schlachtfeldern des nahenden Ersten Weltkriegs grauenhaft entladen sollte.
    Vor diesem Hintergrund spielt die Geschichte von Michael Rost, einem jungen Juden russisch-polnischer Herkunft, der allein nach Wien emigriert ist. Nicht wenige Kapitel des persönlichen Tagebuchs, das der junge Vogel im Wien der Jahre 1912–1922 schrieb, erscheinen hier in Prosaform in Gestalt des Michael Rost und weiterer Figuren. Wie Vogel selbst kam auch Rost mittellos nach Wien und wohnte zunächst zur Untermiete bei einer alleinstehenden alten Dame, die einen Kanarienvogel im Käfig hielt, und wie Vogel, der in seinem Tagebuch von einer Dreiecksbeziehung mit einer älteren Frau und deren Tochter berichtet, knüpfte auch Rost eine Liebesaffäre mit seiner Zimmerwirtin Gertrud und deren Tochter Erna an. Diese autobiografische Episode, die im Roman dramatisch ausgearbeitet wird, ist ein fesselndes Thema in Vogels Werk, das auch in einem seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten frühen Gedichte auftaucht, wo der Dichter zwischen zwei Liebhaberinnen, Mutter und Tochter, steht: »Und ich weiß nicht, ob die Alte oder die Junge / Eine wie die andere übt flink die Zunge / Die eine lockt mit roter Feuersglut / Die andere mit schneeweißem Tugendmut.« 1

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    Mitte des vorigen Jahrhunderts, als man, aufgrund der Nachrichten über die Schoa der Juden Europas, das Archiv Genazim zur Aufbewahrung der Nachlässe hebräischer Schriftsteller gründete, kam auch der Hauptteil des literarischen Nachlasses von David Vogel, dessen Spuren sich einigeJahre zuvor verloren hatten, hierher. Später wurden weitere Teile seines Nachlasses in New York, in Frankreich und in Tel Aviv aufgefunden und ebenfalls diesem Archiv übergeben, wo sie unter derselben Aktennummer 231 und dem Namen »David Vogel« geführt werden.
    Zu den archivierten Schriften gehören Schreibbogen unterschiedlichen Formats, darunter druckfertige Manuskripte und andere, die mit Streichungen und Korrekturen versehen sind, Gedichthefte, Aufzeichnungen, ein deutscher Notizkalender für das Jahr 1917, ein Schulheft, Briefe, frankierte Postkarten.
    Es sind verblichene Manuskripte, die längst den aktuellen Bezug zu ihrer Umgebung verloren haben, zum Beispiel Briefe an Adressaten, die bereits umgezogen oder verstorben waren, eilige Mahnungen mit längst abgelaufenen Fristen, Schulden in einer abgeschafften Währung. Wie ein Türschlüssel, der nichts mehr auf- und zuschließt, kann man nun in einem Notizbuch die Abfahrtszeit einer Bahn nachlesen: »Personenzug um zwanzig nach neun Uhr abends bis Salzburg«, oder den Entwurf eines Eilbriefs, den Vogel an Josef Aharonowitz in Jaffa geschrieben hatte: »Lieber Aharonowitz, mein Freund Wilenski schrieb mir, er habe sich mit dir wegen meines Zertifikats beraten, und du hättest ihm freundlicherweise versprochen, dich vor dem Laubhüttenfest darum zu kümmern«, oder die Liste, die auf einen Bogen Papier gekritzelt war: »1) In Sachen der Bilder 2) zum Zahnarzt 3) Hemd kaufen«, oder ein
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