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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Autoren: David Vogel
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Schlechten, die Erna in der letzten Zeit angeblich durchmache, ohne der Frage tiefer auf den Grund zu gehen.
    Eigentlich spürte Gertrud, dass sie unrecht hatte, dass sie ihre Tochter ohne deren Verschulden quälte, aber sie kamnicht an gegen das Bedürfnis, sie zu peinigen. Empfand bereits Abneigung, ja offenen Hass gegen sie, ihre Tochter. Allein schon die Erkenntnis, dass sie ihr Unrecht tat, veranlasste sie, sie nun erst recht schlecht zu behandeln. Und sie fühlte ihre eigene Schwäche und Unterlegenheit und den Vorsprung der Tochter, dieses Kükens, das noch nicht mal gelernt hatte, sich ohne elterliche Hilfe die Nase zu putzen – ein sicherer, entschiedener Vorsprung in jeder Hinsicht.
    Und sie, Erna, zeigte keine Spur von Wut auf ihre Mutter. War einfach nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie tat immer so, als verstände sie die Sticheleien der Mutter nicht, als sei das alles völlig natürlich, und das brachte die Mutter noch mehr auf die Palme. Wenn Gertruds Attacken bei Erna wie an einer stählernen Rüstung abprallten und die Mutter deswegen schamlos und unverhohlen jähzornig wurde, versuchte die Tochter sie mit ruhigen Worten zu beschwichtigen, wie man einem Kind oder einem Schwerkranken gut zuredet, und bemühte sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sie verwandelte die ganze mütterliche Aufregung in eine völlig alltägliche und unwichtige Angelegenheit. Da Gertrud bei ihrer Tochter keinen Widerstand fand, war es, als würde sie auf ein Kissen eindreschen, was einfach lächerlich wirkte, und das konnte sie ihrer Tochter nicht verzeihen. Sie verlor jede Selbstbeherrschung und wurde natürlich auch ihrer Tochter nicht Herr. Erna entglitt praktisch ihren Händen. Gertrud erkannte sie kaum noch wieder, wusste nicht, wer dieses aufrechte junge Mädchen wirklich war, das plötzlich Charakterstärke und solch große Selbstbeherrschung an den Tag legte.
    Rost war bei den Stifts ausgezogen und wohnte nun nicht weit von Friedels Eltern. Er hatte jetzt zwei Zimmer: Schlafkammer und Salon, deren Fenster auf einen ruhigen, kleinen Platz blickten, auf dem häufig ein paar Tauben auf demgefegten Pflaster pickten oder Jungs Fußball spielten. Sein neues Domizil gefiel ihm sehr. Die Wirtin, Frau Stengelberg, eine würdige Matrone mit weißem Haar und recht jungem Gesicht, wohnte ansonsten allein in der großen Wohnung, sie und ihr Dienstmädchen, und nur ab und zu, vornehmlich an Sonn- und Feiertagen, bekam sie Besuch von ihren Söhnen und Töchtern. Sie war im Jahr zuvor zum zweiten Mal Witwe geworden und dachte nicht an eine Wiederverheiratung.
    Sie sei ja schon eine alte Frau, pflegte sie, nicht ohne einen Anflug von Koketterie, zu sagen, und wer wolle sie denn schon haben? Sie wies noch Spuren vergangener Schönheit auf, und man konnte sie sich unschwer in ihrer Jugend vorstellen, wenn man ihre Tochter anschaute, die ihr sehr ähnlich sah.
    Rost fühlte sich wohl in dieser geräumigen und ruhigen Wohnung.In Marie Annes unruhigen und nervösen Schlaf drang das leise Knarren der Wohnungstür. Sie streckte die Hand aus und zündete die Lampe auf dem Nachttisch an. Mattes rosiges Licht verbreitete sich in dem geräumigen Zimmer, konnte jedoch nicht die Schatten vertreiben, die sich in einigen Ecken sammelten. Die Uhr zeigte Viertel vor fünf.
    Halb sitzend blieb sie eine Weile in dem breiten Bett, auf einen Ellbogen gestützt, reglos. In der tiefen Stille hörte sie Michaels dumpfe Schritte im nächsten Zimmer und dann das Plätschern des Wassers in der Badewanne. Schließlich war sie mit der Geduld am Ende. Sie stand auf, schlüpfte in den Morgenrock und öffnete die Tür zum Nebenzimmer.
    »Warst du wieder dort?« Sie blieb auf der Schwelle stehen.
    »Schläfst du nicht?«
    »Ich konnte nicht schlafen.« Einen Augenblick später wiederholte sie: »Ich konnte nicht schlafen.«
    »Ich hab’s nicht geschafft«, sagte Rost gleichmütig, während er einen grauen Seidenpyjama anzog.
    »Alles?«
    »Alles.«
    »Ich hatte dich gebeten, nicht hinzugehen. In der letzten Zeit hast du bloß immer verloren. Viel verloren.«
    »Ist mir egal. Dieser Zustand war mir schon über.«
    »Und ich?«
    Er stand jetzt groß und aufrecht vor ihr und zündete mit dem Daumen sein Feuerzeug an. »Willst du ehrliche Worte hören?«
    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie wie zu sich selbst, »schlimme Gedanken die ganze Nacht. Und nun …«
    »Ich will völlig neu beginnen. Ich kann nicht lange auf einem Fleck
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