Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

verharren.«
    »Das heißt?«
    »Du bist eine erwachsene Frau«, fuhr Rost fort, »außerdem habe ich mein ganzes Geld verloren. Alles.«
    »Brauche ich etwa dein Geld?« Ihre Stimme bebte ein wenig. Sie trat zu ihm und schlang ihm die bloßen Arme um den Hals. Der Morgenrock war ihr von den Schultern gerutscht und zu Boden gefallen. Nun trug sie nur noch ein blaues Nachthemd mit Rüschen am Ausschnitt und am Rand der kurzen Ärmel. Sie lehnte den Kopf zurück, und das rostbraune Haar fiel ihr über die Schultern.
    »Es ist also alles vorbei?«
    Er geleitete sie zu einem Polstersessel. »Setz dich, und wir unterhalten uns ruhig und vernünftig.«
    Marie wiederholte: »Michael, es ist also alles vorbei?«
    »Was denn sonst? Hattest du vor, die Ära unseres Zusammenlebens mit einem Trauschein zu beenden? Und danach aus Gewohnheit und Langeweile Kinder zu gebären oder dir alle Augenblick neue Liebhaber zu suchen? Bis du dessen würdig bist, musst du mindestens noch fünfzig Männer kennenlernen. Du bist doch erst zwanzig.«
    »Ich dachte … du bist ja keine zwanzig mehr … Was soll das hier mit dem Trauschein! Ich würde dich gar nicht heiraten wollen! Wie kommst du denn darauf !«
    »So ist die Lage. Ich habe dich immer für eine vernünftige Frau gehalten, frei von Gefühlsduselei.«
    Marie reckte den Kopf mit der Arroganz einer verwöhnten Zwanzigjährigen. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Und du kehrst also zu deinen dunklen Geschäften zurück.«
    »Dunkle Geschäfte? Ein bisschen Moral als Wegzehrung? Übrigens kannst du in der Wohnung bleiben, wenn du möchtest.«
    »Danke! Will ich nicht.« Sie stand auf, ging auf die Schlafzimmertür zu, überlegte es sich anders und blieb auf halbem Weg stehen. Dann machte sie abrupt kehrt, kam geradewegs auf ihn zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Scheißkerl!«
    Michael Rost stieß sie so heftig weg, dass sie rückwärts auf den Teppich fiel. »Geh schlafen, Marie! Ich mag keine tragischen Szenen!«
    Nackt bis über den Nabel lag Marie am Boden und schluchzte leise. Draußen vor den Fenstern tuckerte ein Auto vorbei. Dann zog wieder Stille ein. Nur Maries stoßweises Schluchzen war noch zu hören.
    Nach einer Weile kroch sie über den Teppich zu Rost, der dasaß und rauchte, und schlang ihm die Arme um die Knie. Ihr tränenfeuchtes Gesicht zu ihm aufhebend, stieß sie hervor: »Verzeih mir, mein Geliebter … Du weißt doch, wie sehr …«
    Rost hob sie vom Boden hoch, trug sie auf den Armen ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett.
    Dann ging er ins Badezimmer.

Wien – Stadt einer Jugend
    Nachwort von Lilach Netanel

1
    Das unbenannte Manuskript, das hier erstmals unter dem Titel Eine Wiener Romanze erscheint, fand sich 2010 in David Vogels Nachlass, im Archiv Genazim in Tel Aviv. Nach seiner vollständigen Entzifferung wurde mir klar, dass ich ein ganzes, bisher unbekanntes Werk von Vogel vor mir hatte. Auf fünfzehn großen Papierbogen, über und über schwarz vor Tinte, hatte Vogel nicht weniger als fünfundsiebzigtausend Wörter in winziger Schrift untergebracht. Es ist ein früher Wien-Roman um den Protagonisten Michael Rost, dessen Leben einige Parallelen zu dem des Autors aufweist: Als junger Untermieter in der Wohnung einer gutbürgerlichen Familie gerät er in eine Liebesaffäre mit der Zimmerwirtin und ihrer sechzehnjährigen Tochter.
    Rund hundert Jahre nach seiner Entstehung, vermutlich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und nach rund fünfzigjähriger Lagerung im Literaturarchiv, wurde das Buchstabenmeer eines ganzen Jugendromans entdeckt, eine Art Zeitkapsel aus dem Westeuropa des beginnenden 20. Jahrhunderts und eine biografische Fundgrube über das Leben des jungen Vogel in der Stadt Wien. Eine Wiener Romanze ergänzt Vogels Werkgeschichte. Noch ehe er als Verfasser von Eine Ehe in Wien – seinem bisher einzig bekannten hebräischen Roman – seinen hebräisch lesenden Zeitgenossen bekannt wurde, besaß er also schon den Entwurf eines weiteren Romans, den er später überarbeitete und in Manuskriptform aufbewahrte, ohne Datum und ohne jeglichen Titel.
    Abgesehen von einer Pariser Exposition, die nach dem Ersten Weltkrieg spielt, ist der Hauptteil der Wiener Romanze im Wien des beginnenden Jahrhunderts angesiedelt, der Hauptstadt der Donaumonarchie vor deren Untergang. Zigeuner, jüdische Immigranten aus Russland, österreichische Offiziere, bürgerliche Angestellte mit Familie, Theaterschauspieler und Kabarettsänger bevölkern