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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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brummelte mein Vater.
    – Wer möchte noch Huhn?, fragte meine Mutter.
    – Ich bin kein Dieb, sagte ich. – Ich bin kein Dieb.
    Jeder mag Nixon.
     
    Etwas war passiert.
    Ich konnte mich an eine Zeit erinnern – es schien lange her –, als mein Vater und ich vor dem Zubettgehen spielerisch rangen. Im Winter, wenn der Schnee über die Straße wirbelte und der Wind durch die Bäume jagte, mummelte er sich ein, stapfte hinaus und goss Wasser den Hügel hinab, damit unsere Schlittenbahn am Morgen für uns gefroren sein würde. Wenn das Schulende verkündet wurde, jubelten wir und rannten hinaus und spielten im Schnee, und unsere Schlitten warteten schon neben der Haustür auf uns. Wenn es Frühling wurde und die Vögel zurückkehrten und die Blumen blühten, brachte mein Vater mir Schwimmen bei, und manchmal ließ er mich auch seinen Mäher fahren, und an einem richtig guten Tag, dem besten von allen, gingen wir in seine Garage und machten die Tür hinter uns zu, und dann bauten wir zusammen.
    Mein Vater konnte alles bauen. Tische, Bücherschränke, Treppen, Zimmer – Zimmer! –, ein ganzes Zimmer, nur mit einem Hammer und einer Säge und den paar Sachen, die er von seinen wöchentlichen Ausflügen zu Rickel’s Home Improvement Center mitgebracht hatte. Im Wohnzimmer setzte er Lampen in die Decke. Nicht an die Decke – in die Decke. Wie setzt man Lampen in die Decke? Er baute eine Veranda, und im Sommer darauf baute er Wände um die Veranda, so dass aus der Veranda ein Zimmer wurde, und einen weiteren Sommer später baute er an die Außenseite des Zimmers, das er aus der Veranda gebaut hatte, die er zuvor gebaut hatte, eine weitere Veranda. Und alles, was er baute, war perfekt, und es war schön – die Kanten waren scharf, und die Fugen waren fest, und nie blieb ein Spalt oder Riss oder Fehler. Meine Rabbis sagten mir, ich hätte einen jiddische kop , einen jüdischen Kopf, was bedeutete, dass ich klug war (ein gojische kop, also ein nichtjüdischer Kopf, bedeutete, dass man dumm war), aber jüdischer Kopf hin oder her, ich begriff nie, woher mein Vater wusste, wo genau er zu sägen, welches Brett er zu nehmen hatte und wie dann alle so perfekt passten, als hätten sie es so gewollt, als hätten die Bretter, der Leim, die Nägel nur darauf gewartet, dass er sie in ihre richtige Ordnung zusammenfügte. Wir waren Leviten, Abkömmlinge vom Stamm Levis: in früheren Zeiten waren wir die Handwerker, die Baumeister. Die Leviten trugen das Tabernakel, wohin die Israeliten auch zogen; sie bauten das Tabernakel auf, wenn sie ankamen, und sie zerlegten es wieder, wenn sie gingen. Manche Weisen sagten, die Leviten bauten das Tabernakel nicht mit den Händen, sondern mit dem Atem, mit ihrer Rede, ein Levit brauche nur eine geheime Abfolge heiliger Worte zu sagen, worauf die Wände und die Vorhänge und Türen sich von allein zusammenfügten, ich aber kam zu dem Schluss, wenn ich ihm beim Bauen zusah – mit seinen kräftigen Händen, den scharfen Augen, der Zunge, die aus dem Mundwinkel herauslugte, wenn er die Säge zum Schnitt ansetzte –, dass es nur die faulen Leviten gewesen sein konnten, die ungelernten Leviten, die Tagelöhner, die sich überhaupt so weit erniedrigten, lächerliche Zauberwörter zu sprechen. Wir bauten einen Tisch für meine Mutter, einen Bücherschrank fürs Esszimmer. In einem Sommer bauten wir zusammen eine Veranda – die außerhalb des Zimmers, das einmal eine Veranda gewesen war –, nur wir beide. Abends, die Handflächen voller Blasen, die Fingerspitzen voller befriedigender Splitter, grillten wir ein Huhn, salzten Maiskolben und sprachen über mögliche nächste Projekte. Am Ende des Sommers, wenn wir die letzten Geländer fertiggestellt hatten und die Beize auf der langen, perfekten Treppe getrocknet war, machte ich ihm ein Poster: »100 Dinge, die man außer Rauchen noch tun kann.« Ich hatte Angst, er könnte sterben. Er war übergewichtig und hatte graue Haare, und ich wollte die Zeit anhalten und machen, dass er ewig lebte.
    Und dann, nur wenige Jahre später, hatte ich Angst, er könnte genau das tun.
    Etwas war passiert.
    – Was ist passiert?, fragte ich meine Mutter.
    – Niemand soll den Schmerz erleben, ein Kind zu verlieren, sagte meine Mutter.
    Sie sprach von Jeffie. Jeffie war ihr Sohn. Er starb mit zwei Jahren an einer Krankheit, deren Name, wie der Hitlers, nur selten ausgesprochen wurde. Das war lange vor meiner Geburt, sogar noch vor der Geburt meiner älteren
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