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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an
Autoren: Shalom Auslander
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Schwester.
    An der Wand im Flur hing ein Bild von Jeffie, wie er mit meinem Bruder auf einer weißen Parkbank sitzt. Hinter ihnen waren unechte weiße Bäume und gelbe Blumen. Jeffie lachte. Er hatte Locken wie ich.
    – Schwanzlutscher, sagte ich zu Jeffie, wenn meine Familie stritt. – Sieh nur, was du angerichtet hast.
     
    Ein alter Mann starb.
    – Traurig, sagten alle, ohne besonders traurig zu sein.
    Der Mann war sehr reich gewesen und hatte der Synagoge eine große Summe hinterlassen. Rabbi Blonsky kaufte sich einen neuen Lederstuhl, die Kochnische bekam einen neuen Kühlschrank mit Gefrierfach und die Gemeinde eine nagelneue Tora. Toras sind mit der Hand geschrieben, es dauert Monate, bis sie fertig sind, und sie kosten Tausende von Dollars. Die Gemeinde hatte schon zwei Toras, aber die waren alt: Die eine roch komisch, aber niemand sagte es, weil sie den Holocaust überstanden hatte. (An einem Samstagmorgen, ich hatte mich nicht drücken können, wurde ich zur Bima , also zum Lesepult gerufen, um mitzuhelfen, die Tora zu schließen, nachdem der Kantor sie hochgehoben hatte, damit jeder in der Synagoge sie sehen konnte. Das bedeutete, dass ich das Pergament um die Spulen rollen, es mit einer elastischen Spange befestigen, die Samthülle darüberziehen und sie küssen musste, bevor ich wieder zu meinem Platz laufen durfte.
    – Ich bin ja so stolz auf dich, sagte meine Mutter, nachdem der Gottesdienst beendet war.
    – Die Tora riecht komisch.
    – Die Tora hat den Holocaust überstanden.
    – Na und?
    – Also sei etwas respektvoller.
    – Sie stinkt.
    – Ich möchte mal wissen, wie du nach einem Holocaust riechen würdest.
    Die Toras wurden vorn in der Synagoge im Schrein aufbewahrt, dem heiligsten Ort in einer Synagoge, dem Ort, wo der Heilige Geist sich während der Gebete niederlegt. Bedauerlicherweise hatte, wie Rabbi Blonsky meinem Vater an jenem Abend am Telefon erklärt hatte, der alte Toraschrein nur Platz für zwei Toras, weswegen die Synagoge, da sie nun eine nagelneue Tora hatte, auch noch einen nagelneuen Toraschrein brauchte.
    – Versteckte Kosten, hatte Rabbi Blonsky gescherzt.
    Und man würde sie, setzte er hinzu – gebaut, gebeizt und aufgestellt –, schon drei Wochen später benötigen.
     
    Ich wartete darauf, dass die Kreissäge wieder heulte, und als sie es tat, stand ich auf und bemühte mich, kein Geräusch zu machen. Neben ihrer Handwerkskunst waren die Leviten auch für ihren Zorn bekannt. Levi selbst neigte zu solch fürchterlichen Gewaltund Wutausbrüchen, dass Jakob, sein Vater, ihn nicht zum Erben machen wollte. Er versuchte, seinen Bruder Josef umzubringen. Er schlachtete das gesamte Volk der Hewiter ab. Nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb bestimmte Mose, dass die Leviten durch das Lager reiten und alle Götzendiener töten sollten. Die Kinder Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte, und fielen des Tages vom Volk dreitausend Mann.
    – Scheißding, knurrte mein Vater, als ich gerade auf Zehenspitzen an der Garagentür vorbeischlich.
    Er redete mit seinem Hammer.
    Mein Vater baute noch immer Dinge, und die Dinge, die er baute, waren noch immer perfekt und schön, doch er baute sie mit immer weniger Geduld und immer mehr Wut. Das Holz schien jetzt schreckliche Angst vor ihm zu haben, war angespannt wie Vieh vor der Schlachtung; Bretter, die sich ihm einst hingegeben hatten, widersetzten sich ihm nun, der Garagenboden war übersät mit ihren gemetzelten Überresten, ein Massaker an Ahorn und Kiefer.
    Etwas war passiert.
    – Was ist passiert?, hatte ich meine Mutter gefragt.
    – Seine Schwestern, hatte sie gesagt. – Sie waren ganz gemein zu ihm. Als er klein war.
    Ich stapfte zur Küche hinauf, wo die Übrigen meiner Familie beim Frühstück saßen, und ich wusste, meine Mutter würde mich bitten, den ganzen Tag meinem Vater zu helfen. Wenn sie ihn schon einmal erlebt hätte, wie er einem störrischen Nagel mit dem scharfen Ende eines Klauenhammers zu Leibe rückte, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt. Die Hewiter waren noch gut bedient gewesen. Sie saß mit meinem Bruder und meiner Schwester am Küchentisch, und ich mied, so gut ich konnte, jeden Blickkontakt, setzte mich ihr gegenüber und tat, als läse ich die Rückseite der Cornflakes-Schachtel, so wie wir alle so taten, als hörten wir meinen Vater unten nicht, wie er sich durch einen weiteren unglückseligen Hektar Holz fluchte.
    – Was ist ein Schwanzlutscher?, fragte mein Bruder.
    – Sag nicht solche
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