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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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später gekommen wären und jemand anderes diese Bretter genommen hätte? Wenn der nun eine Hundehütte daraus gebaut hätte, ein Baumhaus, ein Klohäuschen? Und wenn wir zu früh gekommen wären und das die Klohausbretter waren? Hatte Gott uns deshalb den alten Mann geschickt, damit er langsam vor uns herfuhr? Und wenn die Schreinbretter nun weiter unten in dem Stapel lagen?
    Ich hörte meinen Vater lachen. Dieses Geräusch hatte ich schon sehr lange nicht mehr gehört.
    – Hm, tja, scherzte er mit einem Verkäufer von Rickel’s, – tja, wenn sie alle hinüber sind …
    – Dann haben vielleicht die geraden das Problem, sagte Mike, der Holzpartner von Rickel’s.
    – Ich sag Ihnen, sagte mein Vater durch eine Seite des Mundes (so machte er immer seine Witze – verschlagen, als sollte er das nicht, als wäre es eine Sünde), – wenn Ihre Preise so gut wie Ihr Gequatsche wären …
    Sie lachten ohne Ende.
    Plötzlich tat mir mein Vater leid. Er war anders als die anderen Väter. Er war kein Rabbi wie der von Ephraim oder Shlomo oder Akiva oder Yechezkel oder Yoel oder Motty oder Dovid oder Shimon, kein Arzt wie der von Ari oder Hillel oder Avi oder dem anderen Avi oder Chaim oder Mordechai. Wenn er mich von der Jeschiwe abholte, wartete er in seinem Auto ganz hinten auf dem Parkplatz, allein, abseits der anderen Väter, die sich auf der Schultreppe unterhielten. Am Sabbat, nach dem Ende des Gottesdienstes, wenn meine Mutter vor der Synagoge mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen redete, stand mein Vater allein am Straßenrand am Ende der Auffahrt zur Synagoge und wartete auf sie, die Hände in der Tasche, und sang traditionelle jiddische Sabbatlieder, deren Text er nicht kannte.
    – Jam, bam, biddy-biddy bam, sang er. Die jiddische Ruhe vor dem Sturm.
    – Ich bin kein Dieb, sagte ich.
    – Hör auf damit. Sag deiner Mutter, dass wir gehen.
    Ich trottete über den Parkplatz zur Synagoge, wo meine Mutter lächelte und nickte, und wartete dort bei ihr, in der Menge versteckt, bis mein Vater nicht mehr warten wollte und sich allein auf den Heimweg machte. Dann tat er mir leid. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, wenn keiner aus der Familie mit einem von der Synagoge nach Hause gehen wollte. Wenn sie sogar darauf warteten, dass man ging, damit sie ohne einen nach Hause gehen konnten. Wenn sie insgeheim hofften, dass man an dem Sabbat auf dem Heimweg von der Synagoge von einem Auto überfahren würde, und das wäre es dann.
    Verfluchter Mist, dachte ich und rannte die Straße entlang, um ihn einzuholen.
    Mein Vater und Mike, der Holzpartner von Rickel’s, lachten und scherzten noch zehn Minuten, dann gingen wir. Als wir auf die Route 59 einbogen, scherte ein grauer Ford Pinto mit einem Domino’s-Pizza-Schild auf dem Dach auf unsere Spur und schnitt uns. Mein Vater sagte kein Wort.
     
    Es war ja nicht so, dass Avrumi Mendlowitz etwas gegen mich persönlich hatte. Er hatte mir einfach nur noch nicht die Eier gequetscht.
    – Bald krieg ich dich, sagte er beim Lunch.
    Alle lachten.
    Avrumi war in meiner Vierten. Avrumi war groß für sein Alter, selbst wenn sein Alter zweiundzwanzig gewesen wäre. Jeden Tag, wenn die Jeschiwe aus war und wir zu den Schulbussen hinuntergingen, wartete Avrumi unten an der Treppe und suchte sich ein passendes Opfer für den Tag aus. Er packte den Jungen, warf ihn zu Boden, langte ihm zwischen die Beine und quetschte ihm die Eier. Das machte es schwierig, ihn zu verpetzen, und das wusste Avrumi. Wie sagt man zu einem Rabbi »Eier«?
    – Avrumi verprügelt andere, sagte ich zu Rabbi Goldfinger.
    Es war Montagnachmittag, und Avrumi hatte mich und meine unwiderstehlichen Hoden die Treppe hinunter, den Gang entlang und bis zur Eingangstür gejagt, wo er dann aufgrund der großen Rabbi-Dichte aufgab.
    – Wen verprügelt er?, seufzte Rabbi Goldfinger, und ich war erleichtert; seine Verzweiflung schien anzudeuten, dass er diese Beschwerde auch schon von anderen gehört hatte.
    – Jeden, sagte ich.
    – Ich sehe keinen, der verprügelt aussieht.
    – Na ja, nicht richtig verprügeln …
    Rabbi Goldfinger schaute an mir hinab. Hinter seiner schwarzen Hornbrille und dem langen schwarzen Bart war ein Paar warme, einfühlsame Augen unter dichten, ausdrucksvollen Brauen. Er legte mir die Hände auf die Schultern, drehte mich zu den wartenden Bussen hin, gab mir einen Schubs und sagte, wenn ich wüsste, was gut für mich sei, würde ich aufhören, andere in Schwierigkeiten zu bringen.
    Dummer

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