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Eine verlaessliche Frau

Titel: Eine verlaessliche Frau
Autoren: Robert Goolrick
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schnürte die Bänder ihres bestickten Korsetts auf und schüttelte es ab. Plötzlich fühlte sie sich leicht, als würde sie sich vom Boden erheben, roter Samt zu ihren Füßen wie eine Pfütze.
    Während sie diese Handgriffe ausführte, beobachtete sie sich selbst im Spiegel. Für einen Moment sah sie das Spiegelbild ihres kopflosen Körpers. Das war nicht unangenehm. Sie genoss ihren Körper, so wie Frauen das manchmal tun, und betrachtete ihn leidenschaftslos, als läge er in einem Schaufenster aus, und erkannte genau das Rohmaterial, mit dem sie, Tausende von Malen, bestimmte Wirkung erzielt hatte. Jeden Tag nahm sie dieses Rohmaterial ihres Körpers und zupfte und presste es zurecht und schmückte es anschließend, damit es zu einer überhöhten Version ihrer selbst wurde, eine Version, die dazu diente, Aufmerksamkeit zu erregen.
    Nicht mehr.
    Sie beugte sich vor, sammelte ihre Kleidung auf, ihre Seidenschuhe, und band alles zu einem ordentlichen Bündel zusammen. Schnell ging sie ans Abteilfenster, zog es auf und warf ihre teure Kleidung in die Dunkelheit und in das Rattern der Bahnräder. Es hatte jetzt zu schneien begonnen. Bis zum Frühling war es noch lange hin. Bis dahin wären ihre schönen Kleider schwarze Lumpen.
    Von der Gepäckablage über ihrem Kopf holte sie einen kleinen ramponierten grauen Koffer herunter. Sie öffnete die Verschlüsse und nahm ein schlichtes schwarzes Wollkleid heraus, eines von drei gleichen. Sie setzte sich wieder an ihre Frisierkommode und riss ein Stück vom Saum auf. Sie nahm ihren Schmuck ab, ein Granatarmband und Ohrringe, Jahrmarktsplunder, und wickelte sie in ein feines Taschentuch ein, das immer noch nach dem herben Eau de Cologne eines Mannes roch. Sie fügte noch einen feinen Diamantring hinzu und stopfte das kleine Päckchen in den Rocksaum.
    Mit geschickten Fingern fädelte sie einen Faden in eine Nadel und nähte geschwind ihren Schmuck in den Rocksaum ein. Auch wenn er unbedeutend war, erinnerte er sie doch an das Leben, das sie einst geführt hatte, an ihr altes Leben, das sie nun im Saum eines schlichten Kleides versteckte. Er war ihre Versicherung, ihr kleiner Nippes, ihre Fahrkarte aus der Dunkelheit heraus, wenn die Dunkelheit kam. Er war ihre Unabhängigkeit. Er war ihre Vergangenheit.
    Da. Sie stieg in das Kleid und knöpfte die dreizehn Knöpfe zu. Dies waren ihre Kleider, die einzigen, die sie besaß. Sie hatte sie selbst gemacht, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Ohne Korsett oder Mieder mit Stäbchen fühlte sie sich überraschend leicht. Schnell kleidete sie sich fertig an.
    Sie kannte alle Einzelheiten ihres neuen Lebens. Die Einzelheiten waren kein Problem. Sie hatte sie sich stundenlang, ja monatelang eingeschärft. Die Sätze. Die falschen Erinnerungen. Das kleine Musikstück. Sie hatte ein so bescheidenes Eigenleben, so wenig Selbst, dass es ihr leicht fiel, mühelos und überzeugend die Gewohnheiten einer anderen anzunehmen. Ihr neues Selbst war vielleicht auch nicht bewohnter, aber es war auch nicht weniger real.
    Sie öffnete ihr Haar, die dunklen Locken, die ihr Gesicht rahmten. Sie zerrte es zurück, bis ihre Augen schmerzten, und band es zu einem hübschen kleinen Knoten in ihrem Nacken zusammen.
    Sie rief sich ihre Erinnerungen ins Gedächtnis, während sie in ihre Vergangenheit zurückspulten. Ein Soldat neben ihr auf dem Sitz einer Kutsche. Ihre Mutter, die starb, als ihre Schwester aus ihrem Leib glitt. Der Regenbogen. Sie katalogisierte diese Erinnerungen und nähte sie so sorgfältig zusammen, wie sie ihren Schmuck in ihren Rocksaum eingenäht hatte, denn sie musste die Feinheiten ihrer Herkunft ausradieren, damit sie vielleicht zu der Schlichtheit kommen konnte, die vor ihr lag.
    Sie war eine einfache, ehrliche Frau, die in der unerwarteten Pracht eines privaten Eisenbahnwaggons saß. Ein Kind in weißem Leinen, das zwischen ihrer Mutter und einem Mann saß, den sie nicht kannte.
    Catherine Land blieb bis zum allerletzten Moment sitzen, in der Schwebe zwischen Anfang und Ende. Der Zug wurde langsamer und hielt dann an. Der Schaffner kam herein und holte ihren Koffer von der Gepäckablage. Sie gab ihm Trinkgeld, viel zu viel, und er lächelte.
    Sie starrte immer noch auf ihr Gesicht. Sie konnte und wollte nicht ohne Geld oder Liebe leben. Ralph Truitt hatte in seinem letzten Brief schüchtern
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