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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau
Autoren: Karin Fossum
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engen Freunde. Er ist intelligent und handelt intuitiv, aber emotional ist er unterentwickelt. Er trinkt nicht und nimmt keine Drogen. Er interessiert sich nicht sonderlich für Frauen. Er lebt spartanisch, in einem gemieteten Zimmer oder einer kleinen Wohnung, oder er wohnt bei seiner Mutter. Und möglicherweise hat er ein Tier in einem Käfig.«
    »Was?«, fragte Skarre ungläubig. »Ein Tier in einem Käfig?«
    »Ja, aber das sollte ein Witz sein«, sagte Sejer lächelnd. »Ich bin davon ausgegangen, dass du das verstehst. Aber ich könnte mir tatsächlich eine Ratte oder so etwas vorstellen. Ja, du hast mich doch aufgefordert, das zu benutzen, was mir zur Verfügung steht«, verteidigte er sich. »Deshalb habe ich meine Phantasie arbeiten lassen.«
    Er ging zum Fenster und sah hinunter auf die Versammlung von Presseleuten, die sich vor dem Eingang versammelt hatten.
    »Die sehen gierig aus«, sagte er. »Wollen wir ihnen ein paar Brotkrumen hinwerfen?«
    Skarre trat neben ihn, auch er betrachtete die Pressevertreter, die mit riesigen Mikrofonen umherliefen. Es sah aus wie eine Gruppe von Kindern, die alle einen übergroßen Lolli bekommen hatten.
    »Kein Wunder, dass sie kommen«, sagte er. »Dieser Fall bietet doch alles: Dramatik. Originalität. Und Entsetzen.«
    »Vielleicht begehen wir einen großen Fehler«, sagte Sejer. »Vielleicht geht die Gesellschaft mit der Kriminalität total idiotisch um. Die Zeitungen machen ein großes Geschrei um die Sache und der Täter bekommt alles, was er wollte. Vielleicht sollten wir die ganze Sache totschweigen. So lange, bis alle Kriminellen verstummt sind.«
    »Aber was macht der Täter, wenn er ignoriert wird?«, fragte Skarre. »Das müssen wir berücksichtigen. Er wird unter Umständen gefährlicher und noch wütender. Weil er Aufmerksamkeit einfordert und er keine Reaktion bekommt! Ich finde, das hier hat einen explosiven Charakter. Das war ein kleines Baby. Ein nach Seife und Milch duftender, sieben oder acht Kilo schwerer Zuckerklumpen.«
    »Da könntest du recht haben«, sagte Sejer. »Er braucht Publikum. Aber wir müssen versuchen, die Balance zu bewahren. Ich skizziere ihn als einen Menschen mit Gefühlen, damit er sich verstanden fühlt. Richtig? Diesem Typen dürfen wir nicht auf die Füße treten.«
    Sejer kehrte dem Fenster den Rücken zu und setzte sich für einen Moment an seinen Schreibtisch. Er war eher ein zurückhaltender Mann und hatte überhaupt keine Lust, sich nach draußen zu begeben in die Sonne, die Hitze und zu den gierigen, sensationslüsternen Presseleuten. Aber zu seinem Posten gehörten nun einmal auch die Aufgaben eines Pressesprechers, der die Polizei nach außen vertrat. Um die Öffentlichkeit in seiner bedächtigen Art und Weise zu informieren und Bericht zu erstatten.
    »Woran denkst du?«, fragte Skarre mit leiser, vertraulicher Stimme.
    »Ich habe gerade an meinen Enkel gedacht«, gab Sejer zu. »Du weißt doch, Matteus. Er geht doch auf die Ballettschule vom Opernhaus. Und sie haben eben erfahren, dass einer der Schüler einen Gastauftritt auf der Hauptbühne haben wird. Im Frühjahr, im April.«
    »Er muss also vortanzen?«, fragte Skarre.
    »Genau«, antwortet Sejer. »Am 10.^ Oktober muss er als Siegfried vortanzen. Schwanensee.«
    »Der Prinz?«, kommentierte Skarre.
    »Ja«, antwortete Sejer. »Es steht so viel auf dem Spiel. Er will diese Rolle unbedingt haben. Aber es gibt ja so viele gute junge Tänzer.«
    Er starrte die Schreibunterlage auf seinem Tisch an, auf der eine Weltkarte abgebildet war. Weltkarte. Sein achtzehn Jahre alter Enkel war aus Somalia adoptiert worden. Er legte den Finger auf das Land, das dort gelb wiedergegeben war. Matteus war mit vier Jahren nach Norwegen gekommen. Und mittlerweile war er ein vielversprechender Tänzer an der Ballettschule, mit einem imponierendem Körper und steinharten kaffeebraunen Muskeln.
    »Aber kannst du dir vorstellen, dass sie einen schwarzen Prinzen nehmen würden?«, fragte er nachdenklich, er klang besorgt. »Es gibt doch bestimmte Rollen, die es irgendwie nie in einer schwarzen Ausgabe gibt.«
    »Sag mal ein Beispiel«, bat Skarre.
    »Robin Hood«, sagte Sejer. »Peter Pan.«
    »Du machst dir Sorgen wegen der Vorurteile der anderen. Aber die Vorurteile hast du doch selbst.«
    Sejer sah seinen jüngeren Kollegen verlegen an.
    »Ich habe mir eben jahrelang Sor gen gemacht«, sag te er. »Das lässt einen nicht so schnell los. Es war nicht immer leicht. Matteus war auf dem
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