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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau
Autoren: Karin Fossum
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Auskunft mit Fassung. Er fuhr sich mit der Hand durch die Locken und richtete dort ein wenig Unordnung an.
    »Hatten Sie denn irgendwelche Konflikte mit irgendjemandem?«, fragte er. »In letzter Zeit oder vor längerem?«
    Karsten Sundelin baute sich vor der Wand auf. Als versuchte er krampfhaft, die Kontrolle zu bewahren. Wie auch Kommissar Sejer war er beeindruckend groß und breitschultrig. Er schaute auf die beiden herab, für die er verantwortlich war, Lily und Margrete, und in seinem Körper stieg ein Gefühl auf, das er noch nie zuvor empfunden hatte. Ihm gefiel der Geschmack, der Rausch. Das war wahrscheinlich irgend so ein Drecksbengel, dachte er. Warte nur, bis ich den in die Finger kriege.
    »Wir streiten uns nie mit anderen«, sagte er laut.
    Es gibt Menschen, die sehr schnell aus der Haut fahren, dachte Skarre.
    Sejer holte einen Stuhl, schob ihn durch den Raum und setzte sich neben Lily. Er machte einen sympathischen Eindruck, sie mochte ihn. Er wirkte zuverlässig, er war selbstsicher, aber nicht auf eine abstoßende Weise, sondern nur beruhigend, wie um zu sagen, überlass das einfach mir. Darum kümmere ich mich.
    »Wo wohnen Sie?«, fragte er.
    »In Bjerketun«, antwortete sie. »In der Neubausiedlung.«
    »Wie gut kennen Sie Ihre Nachbarn?«
    »Die kennen wir gut«, sagte Lily. »Wir reden jeden Tag mit ihnen. Wir kennen auch ihre Kinder, sie spielen auf der Straße. Die großen fahren Margrete spazieren. Hin und her auf der Straße vor dem Haus. So dass ich sie vom Fenster aus sehen kann.«
    Sejer nickte. Er hob die Hand, beugte sich über Margrete und streichelte ihre Wange mit einem Finger.
    »So eine hatte ich auch einmal«, sagte er mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen. »Das ist schon lange her, die werden ja groß. Aber Sie dürfen nicht eine Sekunde glauben, ich hätte vergessen wie das ist.«
    Lily hatte Tränen in die Augen. Ihr gefielen seine tiefe Stimme, sein Ernst und sein Verständnis. Ihr wurde bewusst, dass Polizisten auch einfach Menschen waren, dass sie ein Leben führten und Kummer und Verzweiflung empfanden, wie alle anderen. Dass sie auch von Ereignissen getroffen wurden und sie sich Dingen stellen mussten, vor denen andere aus Verzweiflung zurückwichen.
    »Wenn Sie nach Hause kommen«, sagte Sejer. »Dann schreiben Sie bitte alles auf. Heute Abend, wenn die Kleine schläft und Sie ein wenig zur Ruhe gekommen sind. Setzen Sie sich hin und notieren Sie alles, was Ihnen so einfällt. Von diesem Tag. Seit dem Aufstehen, was Sie gedacht und getan haben. Ob jemand auf der Straße vorbeigefahren ist, ob jemand angerufen hat, ob jemand aufgelegt hat, als Sie sich gemeldet haben. Ob etwas in der Post war oder ob jemand langsam an Ihrem Haus vorübergegangen ist. Auch wenn Ihnen etwas einfällt, das lange zurückliegt, ein Streit oder ein Konflikt. Schreiben Sie es auf. Wir werden auch bei Ihnen vorbeikommen, denn wir müssen uns ansehen, wie es hinter Ihrem Haus aussieht. Der Betreffende kann Spuren hinterlassen haben, und die müssen wir sofort sicherstellen.«
    Er erhob sich, und Skarre tat es ihm sofort nach.
    »Wie heißt die Kleine?«, fragte er.
    »Margrete«, sagte Lily. »Margrete Sundelin.«
    Sejer sah die beiden an. Lily unter den Seerosen. Karsten unter den Bergen. Das kleine Bündel in der Windel.
    »Wir nehmen das hier sehr ernst«, sagte er. »Denn das war ein schweres Vergehen. Aber eins darf ich Ihnen vielleicht noch sagen: Margrete weiß nichts davon.«
    A ls Sejer und Skarre wieder zurück im Präsidium waren, versuchten sie augenblicklich, sich ein Bild von dem Verbrechen zu machen. Denn es war ein Verbrechen und weit mehr als nur ein grausamer Scherz. Es war dreist, gerissen und widerlich, so etwas hatten sie noch nie erlebt. Die Geschichte des Säuglings, der in Blut gebadet aufgefunden worden war, verbreitete sich auf der ganzen Wache wie ein Lauffeuer. Und erreichte schließlich auch Abteilungsleiter Holthemann. Der kam mit dem Stock in der rechten Hand in Sejers Büro getrampelt und schlug wütend damit auf den Boden, um seine Abscheu zu demonstrieren. Warum er neuerdings einen Stock benutzte, war für alle Kollegen ein einziges Mysterium. Eine freundliche Seele hatte ihn einmal gefragt, ob diese Situation von Dauer sei. Ob er den Stock also bis an sein Lebensende benötigen werde. Er werde diesen Stock so lange mit sich herumschleppen, wie das nötig sei, hatte er gebrummt, und wenn er bis ans Ende seines Lebens eine Stütze brauche, sei das ja wohl
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