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Eine undankbare Frau

Eine undankbare Frau

Titel: Eine undankbare Frau
Autoren: Karin Fossum
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vor Entsetzen. Das Kind war in Blut getränkt. Lily stürzte ins Gras. Sie lag auf dem Boden und fuchtelte mit den Armen, sie war außerstande aufzustehen. Sie wollte sich übergeben, sie spürte, wie etwas Bitteres in ihr hochstieg, dann stieß sie einen grauenhaften Schrei aus.
    Karsten kam um die Ecke gestürzt. Er sah sie hilflos auf dem Boden liegen und er sah das Blut, es war klebrig und fast schwarz. Mit vier Schritten hatte er den Wagen erreicht, riss das Kind heraus und drückte es an seine Brust. Er rief ihr zu, sie solle den Wagen vorfahren.
    »Beeil dich, Lily«, schrie er. »Beeil dich!«
    Ihre Antwort war ein Stöhnen. Er rief lauter. Er brüllte wie ein wildes Tier, und endlich rappelte sie sich auf und lief zur Garage. Dann fiel ihr ein, dass sie die Schlüssel brauchte, und sie rannte ins Haus und riss die Schlüssel vom Haken in der Diele. Sekunden später saß sie hinterm Steuer. Sie fuhr im Rückwärtsgang aus der Garage. Karsten riss die Tür auf und sprang mit Margrete in den Armen ins Auto. Er tastete ihren Kopf ab, untersuchte ihren Strampler.
    »Ich glaube, sie blutet aus dem Mund«, keuchte er. »Ich kann nichts sehen und ich kann es auch nicht anhalten. Kannst du nicht schneller fahren? Fahr schneller, Lily!«
    Später wussten beide nicht mehr, wie lange sie für die Fahrt zum Krankenhaus gebraucht hatten. Karsten konnte sich vage daran erinnern, wie er durch das Foyer gelaufen war und Glastüren aufgestoßen hatte. Eine wilde Jagd durch die Gänge, mit dem blutenden Kind im Arm, auf der Suche nach Hilfe. Lily konnte sich an gar nichts erinnern. Die Welt drehte sich so schnell, dass ihr schlecht wurde. Sie stolperte hinter Karsten her, sie lief wie ein Hase auf der Flucht vor den Jägern, wenn er weiß, dass sein Ende naht.
    Endlich wurden sie von zwei Krankenschwestern aufgehalten. Die eine riss Margrete an sich und verschwand durch eine Tür.
    »Sie warten hier!«, rief sie.
    Das war ein Befehl.
    Dann war sie weg.
    Die Tür bestand aus Milchglas, durch das sie nichts sehen konnten. Dort, am Ende des Ganges, befand sich eine kleine Sitzgruppe, und sie nahmen Platz. Es gab nichts zu sagen. Nach einigen Minuten ging Karsten zu dem Wasserspender, der am Fenster stand. Er riss einen Pappbecher aus dem Gestell, füllte ihn und hielt ihn Lily hin. Sie schlug ihm den Becher mit einem Schrei aus der Hand.
    »Sie hat doch Geräusche von sich gegeben«, sagte er hilflos. »Das hast du doch gehört. Sie atmet, Lily, da bin ich mir ganz sicher.«
    Er ging im Gang auf und ab.
    »Sie müssen die Blutung stoppen!«, rief er. »Wahrscheinlich wird sie eine Bluttransfusion bekommen. Wir waren ja schnell hier.«
    Lily gab keine Antwort. Weiter hinten im Gang lief ein Junge mit einem Arm in einer Schlinge hin und her. Das Drama, das sich nur wenige Meter weiter abspielte, faszinierte ihn, und er starrte sie ungeniert an.
    »Warum kommen die denn nicht«, flüsterte Lily. »Was machen die denn bloß?«
    Sie fühlte sich wie in einer Trommel.
    Die Trommel drehte sich in rasanter Geschwindigkeit. Das hier war weder Leben noch Tod. Später würden sie diese Minuten als die reinste Hölle bezeichnen. Eine Hölle, die ein jähes Ende nahm, als eine Krankenschwester mit Margrete auf dem Arm durch die Glastür trat. Margrete war in eine weiße Decke gewickelt. Zu seinem großen Erstaunen sah Karsten, dass sie mit den Händen fuchtelte.
    »Sie ist vollkommen unversehrt«, sagte die Schwester.
    Karsten nahm Margrete entgegen. Spürte den kleinen Körper in den Armen, er war ganz warm.
    Mit zitternden Händen wickelte er sie aus der Decke. Margrete trug eine Papierwindel, ansonsten war sie nackt.
    »Sie ist unversehrt«, wiederholte die Krankenschwester. »Es war nicht ihr Blut. Wir haben die Polizei verständigt.«
    K arsten und Lily Sundelin wurden in ein anderes Zimmer gebracht, wo sie ungestört auf die Polizei warten konnten. Lily wollte nach Hause. Sie wollte mit niemandem sprechen, sie wollte in ihr Schlafzimmer, sie wollte sich in einer Ecke verkriechen. Sie wollte mit ihrem Mann und ihrem Kind im Doppelbett sitzen und es nie wieder verlassen. Das Kind sollte nie wieder im Wagen unter dem Ahornbaum liegen, nie wieder unbeaufsichtigt schlafen. Nie wieder auch nur für einen Augenblick aus ihrem Bewusstsein verbannt sein. Aber sie mussten warten.
    »Was sollen wir denen sagen?«, fragte sie ängstlich. »Ich bin so nervös.«
    Karsten Sundelin sah seine Frau verständnislos an. Anders als Lily, die vollkommen
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