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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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dem Rücken und die Spielfiguren in Händen eilten sie an Deck. Jeder hielt seine Figuren fest und schärfte sich wieder und wieder ihre Position auf dem Schachbrett ein. Dann wies der Kapitän sie an, einer schwangeren Frau und ihren beiden kleinen Töchtern zu helfen. Beinah hätten sie abgelehnt. Doch dann beschlossen sie: Bei der Wahl zwischen dem Rucksack, den illegalen Einwanderinnen und dem Schachspiel, das seiner Beendigung harrte, würde der Rucksack aufgegeben. Seev Feinberg hielt die Schwangere und die schwarzen Figuren. Der künftige Irgun-Vizechef manövrierte beherzt zwischen den beiden weinenden Mädchen und den weißen Figuren, ließ keine davon in den Wellen verschwinden. Nachdem sie den Strand erreicht hatten, nahmen sie Abschied von der dankbaren Frau, drückten der runzeligen Wange des Heiligen Landes einen flüchtigen Höflichkeitskuss auf und stellten entsetzt fest, dass sie die Brettstellung vergessen hatten. Die ganze Nacht saßen sie mit nassen Unterhosen und nackter Brust am Strand und diskutierten die richtige Stellung. Als die Briten am Morgen ankamen und sie so sahen, dachten sie, die beiden seien seit eh und je am Strand. Schließlich brachen sie auf, das Land zu erkunden, jeder in seiner Unterhose. Seev Feinberg wanderte nach Norden, und der künftige Irgun-Vizechef ging nach Tel Aviv, wo er sich in den gegenwärtigen Irgun-Vizechef verwandelte. Bei einem ihrer Treffen fragte Seev Feinberg, wie einer, der eine schwangere illegale Einwanderin um ein Haar zugunsten eines Turms aufgegeben hätte, die ganze illegale zionistische Einwanderung koordinieren könne, und sein Freund antwortete ihm, er habe bloß eine Obsession gegen eine andere eingetauscht. »Auch hier gibt es schwarze und weiße Bauern. Und auch hier hasse ich es, zu verlieren.«
    Jakob Markowitz und Seev Feinberg saßen am Tisch des Irgun-Vizechefs. Ersterer geduckt und verschämt, den Körper wie in sich gestülpt. Letzterer selbstgefällig, die Beine übergeschlagen, die Glieder entspannt. Obwohl Jakob Markowitz’ Augen immer wieder wie gebannt zu dem Irgun-Vizechef wanderten, konnte er den enormen Unterschied zwischen seiner und Seev Feinbergs Sitzhaltung nicht übersehen. Jakob Markowitz dachte sich: Es gibt Menschen, die laufen in der Welt herum, als seien sie irrtümlich dorthin geraten, als würde ihnen jeden Augenblick jemand die Hand auf die Schulter legen und ihnen in die Ohren schreien: »Was ist denn hier los? Wer hat dich reingelassen? Bitte schnellstens raus.« Und es gibt Menschen, die laufen gar nicht in der Welt herum. Im Gegenteil, sie segeln darin, teilen das Wasser, wo immer sie durchkommen, wie ein stolzes Schiff. Es war nicht Neid, was Jakob Markowitz Seev Feinberg gegenüber empfand. Es war ein komplizierteres Gefühl. Jakob Markowitz saß im Zimmer des Irgun-Vizechefs, betrachtete Seev Feinbergs ausgestreckte Beine, war verlegen über seine eigenen verkrampften und fragte sich, in wie vielen Zimmern er noch mit eingezogenen Gliedern sitzen würde und ob er wohl jemals seine Beine so locker würde ausstrecken können, wenn er nicht allein war. Diese Überlegungen veranlassten ihn, sich mit einem Ruck gerade aufzusetzen, dem Irgun-Vizechef, der bisher kein Wort an ihn gerichtet hatte, die Hand hinzustrecken und zu sagen: »Jakob Markowitz, zu Diensten.«
    An dem folgenden Schweigen erkannte er seinen Fehler. Anscheinend waren die beiden in ein hochwichtiges Gespräch vertieft: in einen kühnen Plan zur Verteidigung des Heiligen Landes, eine besonders vertrackte Liebesstellung, einen genialen Schachzug, den man sich merken musste – Jakob Markowitz’ Deklaration passte zu nichts davon. Der Irgun-Vizechef taxierte Jakob Markowitz etwa so, wie der Arzt der Moschawa eine Stuhlprobe betrachtete, und wandte sich dann wieder Seev Feinberg zu. »Also, wie groß ist ihr Leberfleck?« Der Irgun-Vizechef war ein notorischer Liebhaber von Leberflecken. Seine Gegner behaupteten, sie seien ihm wichtiger als der Körper der Frau selbst. Als Seev Feinberg ihm die Angelegenheit schilderte, die mit Rachel Mandelbaums Brüsten angefangen und mit Abraham Mandelbaums Messer aufgehört hatte, überging der Irgun-Vizechef das Messer – davon hatte er selbst mehr als genug – und konzentrierte sich auf die Brüste. Seev Feinberg war es egal. Im Gegenteil – er schätzte seinen Freund, weil er die Spreu vom Weizen zu trennen wusste, und kam gern wieder auf Rachel Mandelbaums Brüste zu sprechen. Doch nun geschah etwas
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