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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Halbkreis zu seinen Füßen auszuscheren, und hüpft auf die Bank. Ihre Gefährtinnen beäugen sie erschrocken. Jakob Markowitz lächelt über ihren Mut und bietet ihr einen extragroßen Krümel an. Eine weitere Taube landet auf der Bank. Und noch eine. Und noch eine. Ihr Flügelschlag erfüllt den Park im Allgemeinen und Jakob Markowitz im Besonderen. Er bedauert, kein zweites Brot mitgebracht zu haben. So geht es jeden Tag, er bedauert, kein weiteres Brot mitgebracht zu haben. Aber plötzlich flattern alle Tauben in den Himmel auf, und er ist allein auf der Bank, sieht sich um, wer wohl den Gnadenmoment seines Tages zerstört hat. Sie sind zu viert: drei Männer, eine Braut. Einer der Männer hält eine Videokamera, der zweite einen Fotoapparat, der dritte die Hand der Braut. Umgehend beginnen sie eine komplizierte Choreografie: Die beiden Kameramänner umkreisen Braut und Bräutigam, und die umkreisen einander, und keiner von ihnen achtet auf das Brot und die Tauben und Jakob Markowitz.
    Jakob Markowitz befingert den Teig, gräbt weiter und weiter in den verwundeten Laib, vielleicht hat der Bäcker dort ein Wunder für ihn versteckt. Eine einzelne Taube landet auf der Bank. Jakob erkennt in ihr die mutige von vorhin und verheißt ihr im Stillen Generationen mutiger und tadelloser Nachkommen. Ein schriller Schrei vertreibt die Taube und unterbricht seine Weissagung. Das Brautkleid hat einen Harzfleck abbekommen, vermutlich, als die Trägerin für eine Aufnahme einen Kiefernstamm umarmte. Die Männer flöten ihr beruhigende Worte zu, doch sie wehrt ab – allein die Leihgebühr kostet fünftausend Schekel, Gott weiß, was sie für den Schaden berechnen werden. Jakob Markowitz fragt sich, wie viele Brote man für fünftausend Schekel kaufen kann. Während er noch rechnet, spricht ihn einer der Kameramänner an, ob er vielleicht kurz aufstehen könnte, nur für ein paar Minuten, eine letzte Fotostrecke auf der Bank. Jakob Markowitz möchte sagen: Bitte schön, hier ist Platz, setzt euch neben mich und fotografiert nach Herzenslust. Aber er sagt es nicht. Warum soll sein Alter ihren Festtag beflecken? Plötzlich versteht er: Zwei und zwei sind vier. Die Sonne geht im Westen unter. Bald wird er sterben.
    Jetzt ist Jakob Markowitz einsamer denn je, erhebt sich von der Bank, rollt die letzten Teigreste in den Händen. Der Park ist still und leer, und Jakob Markowitz erlaubt sich, zornig zu werden. Jakob Markowitz’ Zorn ist groß und furchtbar, die Erde droht sich aufzutun. Danach erlaubt sich Jakob Markowitz, eifersüchtig zu sein. Die Haut der Braut ist rosig und hübsch, und seine Eifersucht brennt. Zum Schluss erlaubt er sich, zu lieben. Der Himmel wird nicht blauer, aber seine Augen werden feucht. Vielleicht bemerkt er deshalb die Tauben nicht gleich. Blaue, violette, graue, rötliche. Alle gurren ihn laut und klar an. Jakob Markowitz bricht ein Stückchen Brot ab und streckt die Hand aus. Die mutigste Taube fliegt an und setzt sich auf seinen Unterarm. Sie frisst nicht den Brotkrümel, sondern pickt ein wenig von Jakobs Fleisch heraus. Jakob Markowitz wird um einen Krümel weniger. Eine weitere Taube flattert herbei. Und noch eine. Und noch eine. Jakob Markowitz denkt an die Kühlschranktür, dann denkt er an Jabotinsky und an das Harz auf dem Brautkleid, dann denkt er an die schönste Frau, die er je gesehen hat. Schließlich denkt er nicht mehr. Der Taubenschwarm beendet sein Werk und flattert geschlossen auf. Jakob Markowitz fliegt im Sturm zum Himmel hinauf. Halleluja.

Glossar
    Bialik, Chaim Nachman 1873 - 1934 , berühmter und beliebter hebräischer Dichter, der auch als israelischer Nationaldichter bezeichnet wird
    Chamsin trocken-heißer Wüstenwind
    Chassid mystisch orientierter frommer Jude, davon abgeleitet auch allgemein: hingebungsvoller Anhänger eines Menschen oder einer Lehre
    Etrog eine Zitrusfrucht, eine der vier Pflanzen für den Feststrauß zum Laubhüttenfest, siehe Lev. 23 , 40
    Fedajin hier: Palästinenser, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, meist in kleinen Gruppen, heimlich über die Grenze schlichen, um Anschläge in Israel zu verüben
    Freuke Koseform von Efraim
    Goj, gojisch Nichtjude, nichtjüdisch
    Halacha Oberbegriff für die jüdischen Religionsgesetze
    Hebräisch bezeichnet im zionistischen Kontext nicht nur die Sprache, sondern ist auch ein Synonym für jüdisch, erez-israelisch. Erez Israel, Land Israel, stand und steht im jüdischen Sprachgebrauch für Palästina vor der
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