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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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lächerlich farbenfroh. Nur das Brot, seine schlichte Farbe, sein Geruch. Ein Laib Brot, hier ist ein Laib Brot. Dafür ist er gekommen. Er hat es gefunden. Vier siebzig auf die Theke. Halleluja.
    Beim Verlassen des Lebensmittelladens eine Frau und ihr Töchterchen. Die Frau strahlt ihn an. Jakob, wie gehts dir. Aha, sie und sein Sohn waren mal befreundet. Er sieht sie eindringlich an, sucht vertraute Anhaltspunkte in ihrem Gesicht. Aber die Gesichtszüge bleiben ihm fremd. Das gefärbte Haar, die Locken, keine Ahnung, ob echt oder nicht, die dunkle Sonnenbrille vor den Augen. Doch diese Lippen unter dem Lippenstift. Ja, Jakob, hier lang. Er blickt auf diese Lippen und erinnert sich dunkel, wie sie sich mal zum Weinen verzogen haben, im Krankenhaus, Bett an Bett mit seinem Sohn. Und er, Jakob, hat neben ihr gesessen und ihr von fernen Ländern und nahen Prinzessinnen erzählt. Und als sie einschlief, ist er froh und auch ein wenig traurig gewesen, denn er hätte noch mehr erzählen können.
    Jetzt küsst ihn die Frau auf den Hals und weist auch das Mädchen an, Opa Jakob einen Kuss zu geben. Doch er erkennt seinen Widerwillen und sagt hastig: »Nicht nötig, nicht nötig.« Er weiß schon: Er hat einen Alte-Leute-Geruch an sich. Kinder riechen das. Erwachsene auch, aber die dürfen es nicht zeigen. Er hat genug von dem Widerwillen des kleinen Mädchens, genau wie von der Höflichkeit der Mutter. Er nimmt sein Brot und geht.
    Nun zum Park, das Brot im raschelnden Plastikbeutel am Oberschenkel. Vor ihm Eltern, die ihre Kleinen in den Kindergarten bringen, Mütter und Väter unterwegs zur Arbeit, haben es eilig, alle in Eile. Um ihn herum flüchtige Wortfetzen: Vergiss das Butterbrot nicht, ich komm mittags zurück, aber warum denn, genug gestritten, ich bezahl die Putzfrau. Jakob Markowitz lauscht ihnen wie einem bekannten Lied im Radio, fast kann man den Refrain mitsummen. Dann reden wir später, dann treffen wir uns am Nachmittag, ich ruf heute Abend an. Eine ganze Gegenwart spricht von der Zukunft. Nur Jakob ist hier, so sehr hier. Da kommt er am Kindergartenzaun vorbei, lugt im Gehen hinein. Drinnen sieht er kurz ein Bild, das ihn völlig erfüllt: Zwei Kinder betrachten ganz konzentriert eine Schildkröte.
    Ein anderer Alter kommt Jakob Markowitz entgegen und nickt zum Gruß. Er nickt zurück. Den Namen des Alten hat er nicht in Erinnerung, vielleicht nie gewusst. Aber als er ihn vor einem Jahr plötzlich nicht mehr täglich an der Straßenecke gesehen hat, ist er traurig gewesen, als hätte er einen Freund verloren. Ein paar Tage später ist der Alte wieder aufgetaucht, und Jakob Markowitz hätte ihn beinah angesprochen, hätte um ein Haar sein zehnjähriges herzliches Schweigen gebrochen, aber zum Glück hat er sich zusammengenommen – die Tauben warten doch. Und tatsächlich, da sind die Tauben am Eingang zum Park, gurren ihm eine zarte Melodie von Hunger und Begehren und Dankbarkeit.
    Nach dem kalten Fußboden, dem Wunder des Fahrstuhls, der Farbenpracht des Lebensmittelladens, dem Gesang der Straße setzt sich Jakob Markowitz auf die feuchte Bank. Die Tauben versammeln sich routiniert im Halbkreis um ihn, brave Kinder vor dem Rabbi. Und er brummelt ihnen Worte und Töne vor, klagt ein bisschen über die frühe Stunde und erzählt ein bisschen von dem Weg hierher und erkundigt sich ein bisschen nach ihrem Wohlergehen, vor allem aus Höflichkeit. Ein Passant – so es denn einen gäbe – bekäme gewiss Mitleid mit dem alten Mann, der den Vögeln was auf Hebräisch und Jiddisch vorplappert. Welche Verschwendung an Mitleid. Zum Glück ist der Park menschenleer. Mindestens eine weitere Stunde wird es dauern, bis die Kinder kommen, in Sportmontur, zum Morgenlauf. Er sieht ihnen morgens gerne zu, versucht den genauen Moment zu erhaschen, in dem die Veränderung eintritt – wenn der Blick fest wird, der Gips erstarrt, das Kind zum Jugendlichen wird. Immer wieder verpasst er ihn, wie ein Zuschauer bei einer Zaubervorstellung, der nie den Moment der Täuschung erfasst. Eben ist hier doch noch ein Vogel gewesen, ehrlich, wie kann der jetzt im Zylinder verschwunden sein? Niemals weiß er den Punkt aufzuzeigen, immer entdeckt er die Wandlung erst im Nachhinein. Das sommersprossige Kind, das eines Tages nicht mehr versucht hat, auf dem Kiefernast zu wippen, oder das dickliche Kind, das zu Jahresbeginn wegen seiner Erfindungen allseits beliebt gewesen war und das nun keiner mehr mag.
    Die erste Taube wagt, aus dem
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