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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Bella Markowitz’ Duft eingesogen, mit seiner Wange über ihre weiche Schulter gestrichen, ihrem Atem gelauscht. Seine Hände hatten nicht aufgehört zu zittern. Es war die schönste Nacht seines Lebens gewesen. Um sechs Uhr zwanzig stand Bella Seigermann vom Sofa auf, küsste Jakob Markowitz auf die Wangen und verließ das Haus.
    Gleichfalls um sechs Uhr zwanzig warfen die Zeitungsboten wieder mit sicherer Hand die Tagesnachrichten vor die Haustüren. Die Bäcker schichteten eilig die Brotlaibe auf. Die Hähne ließen endlich den erwarteten Schrei heraus. Die Bauern schlugen die Augen auf. Und während sie sich noch streckten und anzogen und Wasser für den Frühstückstee aufsetzten, trat der Arzt zu Sonia und Seev Feinberg und teilte ihnen mit, dass das Kind tot war.
    Sofort begriff Sonia ihren Irrtum. Als die Kellertür aufging, stand sie nicht vor Trümmern, sondern vor dem Sturm selbst. Der Wind brauste in ihren Ohren, zerriss ihren Körper von innen her, in einem einzigen großen Wirbel. Egal, wie sie kreischte, der Sturm brüllte mächtiger als sie. Die Stimme des Schicksals donnerte über ihr, weit stärker als ihre eigene Stimme. Menschen rannten durch den Korridor. Menschen redeten auf sie ein. Eine weiße Hand, die aus einem Kittel ragte, versetzte ihr eine Ohrfeige. Eine Hand aus einem anderen Kittel reichte ihr eine Tablette und forderte sie auf, sie zu schlucken. Aber Sonia versank im Brüllen des Orkans, in dem Sturm, der alles in Splitter verwandelte. Jetzt riss es sie mit ungeheurer Kraft in die Luft, ringsum Häuser und Bäume und Kühe, und sie sah von oben alles, was mal war und nun nicht mehr ist, ersehnte den Augenblick, in dem sie endlich am Boden zerschellte, wie sehr der Aufschlag sie auch schmerzen würde, denn niemals käme er an den Schmerz heran, den sie jetzt empfand. Die ganze Zeit, in der sie wirbelte und kreiselte und aufschlug und zerschmetterte, diese ganze Zeit jedoch spürte sie, weit weg am Rand ihres Körpers, Seev Feinbergs Hand, die nicht locker ließ. Seev Feinberg erlaubte dem Sturm nicht, seine Frau zu nehmen. Es reichte schon, dass er das Kind genommen hatte. Er hielt ihre Hand den ganzen Morgen über. Und all die kommenden Vormittage.
    Während Jakob Markowitz noch stumm dem Knarren der Tür lauschte, die sich für immer hinter Bella schloss, und Seev Feinberg im Sturm die Hand seiner Frau hielt, blickte der Irgun-Vizechef mit sehenden Augen in die aufgehende Sonne. Ihr verspätetes Erscheinen nahm er gleichmütig auf. Er war nicht hergekommen, um sich mit Kleinigkeiten abzugeben. Er hatte den Wagen verlassen und saß auf einem Sandsteinhügel, in den nördlichen Dünen von Tel Aviv. Eines Tages würde man hier das Tuten der Züge von der nahen Bahnstation und die Unmutsbezeugungen der Fahrer auf den ewig verstopften Ausfallstraßen hören. Doch bisher hörte man nur das Rascheln eines verirrten Kaninchens oder eines scheuen Steinhuhns im Gebüsch.
    Ein erster Luftzug wirbelte Staubkörner auf, trieb sie über den Hügel, bloß um sie auf der anderen Seite schlagartig wieder abzulagern. Hätte der Irgun-Vizechef angestrengt in den Wind gehorcht, hätte er vielleicht das Murren der Studenten gehört, die von der später am Fuß der Anhöhe gebauten Bahnstation zu der später obendrauf gebauten Universität hinaufgingen. Aber wie kann ein Mensch dem Wind lauschen, wenn innere Stürme seine Seele hin und her schleudern wie ein Boot illegaler Einwanderer in stürmischer Nacht? Und selbst wenn er hingehorcht hätte – was dann? Jeder Mensch weiß schließlich, dass vor ihm welche gelebt haben und nach ihm welche leben werden. Dieses Wissen über Vergangenheit und Zukunft ist zwar sehr interessant in intellektueller Hinsicht, kann aber akute Schmerzen nicht lindern. Schon gar nicht das Weh des Herzens. Einen solchen Schmerz kann nur ein anderer, größerer Schmerz überdecken. Deshalb saß der Irgun-Vizechef da und wartete, dass die Sonne herauskam, damit er sie direkt anschauen konnte.
    Der Feuerball lugte über die Hügel im Osten, und der Irgun-Vizechef atmete tief ein, zur Vorbereitung. Der neue Tag würde aufziehen, und er würde ihm geradewegs ins Innerste blicken, würde unablässig starren, wie er es bei aufsässigen Untergebenen getan hatte, bis sie in Tränen ausbrachen, wie er die arabischen Gefangenen angestarrt hatte, bis sie anfingen zu reden. Die Sonne und er würden sich ein für alle Mal anschauen, und wenn er bei der Begegnung mit dem großen Himmelskörper
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