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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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strich, ein Schakal, der in der Ferne heulte. Zwei Mal musste Jakob Markowitz seine Worte wiederholen, ehe Bella sie richtig hörte, und selbst dann glaubte sie noch nicht, dass sie wirklich seinem Mund entsprangen. Jakob Markowitz sah seine Frau sich vorbeugen, um seine Worte besser zu hören, und wiederholte sie ein drittes Mal. »Ich gebe dir den Scheidebrief, wenn du möchtest.« Bellas Gesichtsausdruck blieb unverändert, abgesehen von einem raschen Wimpernflattern, so wie ein Vogel heftig die Flügel schlägt, wenn die Käfigtür plötzlich aufgeht, ohne jedoch abzuheben. Sie blieb reglos stehen, auch als Jakob Markowitz völlig sicher war, dass sie seine Worte diesmal gehört hatte. Als die Minuten verstrichen und seine Frau immer noch dastand, begann Jakob Markowitz zu überlegen, ob das Unmögliche tatsächlich vor seinen Augen möglich wurde. Dass Stroh sich in Gold verwandelte. Dass Wolf und Lamm einander voll Zuneigung die Gesichter leckten. Dass eine Million dürrer Knochen jetzt durch die Jerusalemer Gassen tanzten, im großen Zug der Auferstehung. Kurz gesagt: Konnte es sein, dass Bella Markowitz, ein hehres und glorioses Geschöpf, das bisher mit eisernen Ketten festgehalten wurde, auch nach Entfernung des Schlosses weiter auf seiner Türschwelle verharrte? Und wer weiß, vielleicht wäre sie für immer auf seiner Türschwelle stehen geblieben, hätte Jakob Markowitz ihr nicht nach reiflicher Überlegung versichert, unabhängig von ihrer Entscheidung weiterhin für den Unterhalt des Kindes aufzukommen. Da bewegte sich Bella Markowitz endlich von der Türschwelle. Doch statt hinauszugehen, trugen ihre Füße sie hinein, ins Innere des Hauses. Sie ging an Jakob Markowitz vorbei ins Schlafzimmer. Jakob Markowitz stand schon ein dankbares Aufschluchzen auf den Lippen, als er Bella aus den Tiefen des Zimmers rufen hörte, sie könne den Koffer nicht finden.
    Jakob Markowitz zog den Koffer aus dem Schrank und suchte sein Lager im Wohnzimmer auf. So lange Jahre hatte er die Nächte auf dem Sofa verbracht, dass er sich fragte, wie sein Rücken wohl auf die Matratze im Schlafzimmer reagieren würde, das ab morgen wieder seins sein würde. Von dort hörte man Bellas Schritte, während sie ihren Besitz zusammensuchte. Bald verstummten die Schrittgeräusche. Hatte sie hier denn wirklich so wenig, dass sie in einer halben Stunde alles einpacken konnte?, fragte er sich. Bei Sonnenaufgang würde sie weggehen. Eine Weile würde ihr Körper noch am Haus haften: ein goldenes Haar auf der Matratze, ein vergessener Strumpf, ihre Fingerabdrücke auf einem schlecht abgewischten Teller. Nach und nach würden sie verschwinden, bis das Haus nackt und bloß dastünde und Jakob Markowitz darin. Er musste die Moschawa verlassen. Daran bestand kein Zweifel. Sonst würde ihn das leere Haus um den Verstand bringen. Er würde sein Anwesen verkaufen und sich ein anderes suchen. Oder vielleicht nicht. Vielleicht würde er den Tauben in die Großstadt folgen. Bei seinen letzten Besuchen in Tel Aviv hatten die Tauben ihm einladend zugegurrt. Aber was sollte dann aus den Erdbeerpflanzen werden? Jakob Markowitz wäre liebend gern vom Sofa aufgestanden, um die vier Schritte vom Wohnzimmer zu Bellas Zimmer zu gehen und um sein Leben zu flehen. Stattdessen blieb er liegen, den Körper zu einem Knäuel von Sehnen und Muskeln und Gedanken unter der Decke verkrampft. Morgen würde sie nicht mehr da sein. Würde er sie morgens zur Tür begleiten müssen? Ihr die Hand drücken? Oder sollte er lieber in aller Frühe aufs Feld hinausgehen, erbarmungslos auf die Erde einhacken, während eine schlanke, ranke Gestalt den Pfad hinauf davonging? Plötzlich erstarrte Jakob Markowitz auf seinem Lager. Aus dem Schlafzimmer hörte man das Schleifen eines Koffers. Dann wollte sie also jetzt schon weg. Ohne Aufschub. Noch ehe der Tag anbrach. Trunken vor Freiheit würde sie lieber allein in der kalten Nacht durch die Straßen der Moschawa wandern, als noch ein paar trübe Stunden unter einem Dach mit ihm zuzubringen. Jakob Markowitz wagte, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Die schönste Frau, die er je gesehen hatte, stand in der Tür. Er machte schnell die Augen zu, um sie nicht weggehen zu sehen.
    Plötzlich spürte Jakob Markowitz, dass ihm die Decke vom Leib gezogen wurde, während Bella Markowitz sich neben ihn aufs Sofa legte. Ihre Hände – die eine vollkommen, die andere vernarbt – fanden seine zitternden Hände. »Eine Nacht, Markowitz. Eine
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